regensburg digital, 05.09.2012

„Wir lassen uns keine Ketten anlegen“

Staat erhöht Druck auf Flüchtlingsproteste

Spontan-Demo: Gegen die Verhaftung eines Flüchtlings gingen am Mittwoch in Regensburg rund 50 Menschen auf die Straße. Foto: as

 

Am Samstag startet von Würzburg aus ein Protest-Marsch von Flüchtlingen nach Berlin. Die Staatsgewalt hat heute bereits erste Duftmarken gesetzt und einen Iraner verhaftet, der seit bald einem halben Jahr auf der Straße demonstriert. Der Vorwurf: Verstoß gegen die Residenzpflicht. Er sagt: „Wir lassen uns keine Ketten anlegen. Die Mehrheit steht hinter uns.“

Die Staatsgewalt beginnt nervös zu werden. Für den kommenden Samstag haben die Flüchtlinge, die in mehreren Städten seit Monaten und Wochen für mehr Rechte demonstrieren, einen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin angekündigt, um so ihren Forderungen weiter Nachdruck zu verleihen. Nun gab es eine erste Verhaftung wegen Verstoß gegen die sogenannte „Residenzpflicht“. Der Iraner Arash Dust Hossein – er demonstriert bereits seit dem 19. März und war unter anderem mehrere Monate im Protest-Camp in Würzburg – wurde am Mittwoch in Würzburg von der Polizei festgenommen. Er dürfe sich nur in Nordrhein-Westfalen aufhalten, so die Begründung.

Die Residenzpflicht ist ein deutsches Sondergesetz, das europaweit einmalig ist. Asylbewerber dürfen den Bezirk bzw. Landkreis aufhalten, in dem sie (ebenfalls zwangsweise) in einer „Gemeinschaftsunterkunft“ untergebracht sind, nicht verlassen. Wer dagegen verstößt, kann mit einer Geldstrafe oder bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Die deutsche Bundesregierung arbeitet seit geraumer Zeit daran, die Residenzpflicht europaweit einzuführen. Zurück geht diese Regelung auf eine Regelung aus dem Jahr 1938. In der von der NSDAP eingeführten „Ausländerpolizeiverordnung“ wurde so die Bewegungsfreiheit sämtlicher Ausländer eingeschränkt. Die Strafe bei Verstößen war dieselbe wie bei der heute gültigen Residenzpflicht.

In mehreren Städten kam es daraufhin zu Protesten. In Regensburg gingen am Abend spontan rund 50 Menschen auf die Straße und forderten Hosseins sofortige Freilassung. Die Verhaftung sei eine Schikane im Vorfeld des Protest-Marschs.

Grüne: Versammlungsfreiheit vor Residenzpflicht

Auch die Grünen im bayerischen Landtag kritisierten die Festnahme. Die Residenzpflicht sei unmenschlich und gehöre abgeschafft, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung. Die Würzburger Polizei verfrachtete Hussein schließlich zwangsweise nach Düsseldorf, wo er am Abend freigelassen wurde. Beim Auftakt des Protestmarschs in Würzburg darf er nicht dabei sein. Die Polizei erteilte ihm einen Platzverweis.

Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist in Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt: „1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. 2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“

Bei dem Protest-Marsch, der am Samstag in Würzburg beginnt, werden zig Flüchtlinge gegen die Residenzpflicht verstoßen. Es bleibt abzuwarten, wie die Ordnungsmacht darauf reagieren wird. Die Landtagsgrünen haben heute an die Polizei appelliert, Verstöße gegen die Residenzpflicht nicht zu ahnden. Das Recht auf Versammlungsfreiheit sei höher zu bewerten.


„Die Lager sind für uns gestorben“

Im Juli haben wir einen Flüchtling bei seiner „Reise gegen die Residenzpflicht“ von Regensburg nach Düsseldorf begleitet. Dort haben wir ein längeres Interview mit Arash Dust Hossein geführt, das wir hier in Auszügen veröffentlichen.

Sie demonstrieren seit über drei Monaten auf der Straße gegen eine Abschaffung der Residenzpflicht, gegen den Lagerzwang für Flüchtlinge und für das Recht zu arbeiten. Geht Ihnen nicht langsam die Kraft aus?

Natürlich waren wir in den Camps immer Repressalien ausgesetzt. In Würzburg mussten wir mit unserem Zelt immer wieder umziehen. Immer wieder wurden die Auflagen durch die Polizei willkürlich verschärft. Sechs Flüchtlingen wurden nur zwei Schlafplätze genehmigt. In Düsseldorf hat uns die Polizei per Auflage verboten, zu schlafen und kontrolliert das alle halbe Stunde. Aber jedes Mittel, das die Behörden gegen uns einsetzen, zeigt mir, dass unser Protest gerechtfertigt ist. Wir wissen alle, dass es schwer sein wird, unsere Forderungen durchzusetzen. Aber wir werden kämpfen, bis wir es geschafft haben. Als wir im März auf die Straße gegangen sind, sind die Lager für uns gestorben. Dorthin werde ich nicht zurückgehen.

Abgesehen von Ihrem Protest und Ihrer Kritik an Regierung und Behörden verstoßen Sie durch Ihr Herumreisen gegen derzeit noch geltende Gesetze (Für Hossein gilt Residenzpflicht in Düsseldorf, er war aber zuletzt mehrere Monate im Protestcamp in Würzburg. Anm. d. Red.). Rechnen Sie nicht damit, dass der Staat irgendwann zurückschlagen wird, sie verhaftet und unter Umständen sogar abschiebt?

Das kann sein. Aber wir haben im Iran den Kampf gegen eine Diktatur hinter uns und wir haben nicht dort dafür gekämpft, unsere Ketten abzulegen, um uns hier wieder neue anlegen zu lassen. Wir wollen, dass sich viele Flüchtlinge unserem Protest anschließen, dass sie sagen: Wir nehmen uns das Recht, dorthin zu gehen, wo wir wollen. Was macht der deutsche Staat dann mit diesen Leuten? Will er sie alle einsperren? Es ist keine Frage der Hoffnung, ob dieser Protest erfolgreich sein wird. Ich sage: Es geht. Man muss es nur machen.


„Ich glaube, die Mehrheit steht hinter uns.“

Ihre Forderungen sind nicht neu. Seit 20 Jahren fordern Flüchtlinge und Unterstützerorganisationen die Abschaffung von Residenzpflicht, Essenspaketen oder der zwangsweisen Unterbringung in Sammelunterkünften. Erfolglos. Und die Mehrheit der Bevölkerung haben sie damit auch nicht auf Ihrer Seite. Glauben Sie, dass Ihr Protest daran etwas ändern wird?

Arash Dust Hossein: Das waren andere Zeiten und andere Proteste. Außerdem glaube ich nicht, dass die Menschen in Deutschland so ignorant und gleichgültig sind oder dass sie uns ablehnend gegenüberstehen. Der deutsche Staat hatte bisher eine unsichtbare Mauer um uns herum aufgebaut. Wir werden in Lager gesteckt. Wir dürfen uns nicht frei bewegen. Wir dürfen nicht arbeiten und können uns keine Sprachkurse leisten, um mit den Menschen Kontakt zu bekommen.

Jetzt sind wir auf der Straße. Jetzt sehen uns die Menschen und können mit uns reden. Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen hinter uns stehen wird, wenn sie unsere Forderungen und unsere jetzige Situation kennt. Wir führen unseren Kampf jedenfalls so lange, bis die Regierung die Gesetze ändert oder darüber ein Referendum durchführen lässt. Wir lassen uns nicht zum Spielball von Behörden machen. Wir schreiben unser Schicksal selber. Und seit ich auf der Straße protestiere, geht es mir trotz aller Repressalien und allem Ärger einfach super.

 

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