Sonntagsblatt, 27.02.2011
Von Ghazni nach München
Die Flüchtlingszahlen steigen, in den Unterkünften drängen sich Menschen - wie Rahumi aus Afghanistan
Es ist still in dem Gebäude der ehemaligen Bayernkaserne. Von Soldaten keine Spur. Rahumi Hoseyn streift unbeholfen das Laken auf der Matratze straff: »My place«, sagt er und weist auf die obere Liege eines Doppelbettes. Der 16-jährige Jugendliche aus Afghanistan spricht kaum Deutsch und nur ein paar Brocken Englisch. Seit etwa einem Monat wohnt Rahumi mit zwei anderen jungen Flüchtlingen aus Afghanistan in der ehemaligen Bayernkaserne in München-Freimann. Er zählt zu einer Gruppe von rund 80 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in der neuen Erstaufnahmeeinrichtung der Regierung von Oberbayern gestrandet sind.
In dem zweistöckigen Gebäude mit einer Grundfläche von rund 1800 Quadratmetern Wohnfläche leben 101 Asylbewerber. Insgesamt können hier - je nach Belegung - bis zu 289 Menschen untergebracht werden. In einem anderen Gebäudetrakt wohnen die Erwachsenen, darunter auch Familien mit Kindern. Die meisten Asylbewerber kommen aus Afghanistan. Andere aus Nigeria, China, Sierra Leone, der Türkei, Syrien, Serbien, Algerien und Tunesien.
Rahumi erzählt, dass er aus der südlichen afghanischen Provinz Ghazni geflohen ist. Dort ist es gerade alles andere als still. Dort wimmelt es nur so von Soldaten, und täglich sterben Menschen nach Bombenanschlägen und Attentaten. Rahumi spricht nur ungern von den Gründen seiner Flucht oder von seiner Reise. Er sei viel gelaufen, sagt er, und: es habe lange gedauert, bis er in Deutschland angekommen sei. Stattdessen zeigt er lieber, wie er jetzt wohnt: Er öffnet den Kühlschrank, der neben dem Bett steht, und präsentiert Kartoffeln, Gemüse, Milch und Joghurt. Im schmalen Spind liegt sein gesamter Besitz - eine Winterjacke, eine Hose, zwei T-Shirts.
Ob Rahumis Schilderung stimmt, weiß nur er selbst. »Viele Asylbewerber erzählen eine Geschichte, um die Chancen auf Anerkennung zu steigern«, erklärt Sozialpädagogin Jana Weidhaase von der Inneren Mission München. Sie betreut die Flüchtlinge und berät sie bei allen praktischen Fragen, erklärt Formulare oder vermittelt den Kontakt zu Ämtern und Ärzten.
Rein rechtlich gesehen darf jeder Flüchtling in der Europäischen Union nur einen Asylantrag stellen, und zwar in dem ersten Land, das er betritt. Wer also weder mit dem Schiff noch mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen ist, hat im Prinzip kein Recht auf Asyl. Gleichwohl ist die Zahl der Asylbewerber hoch: 2009 wurden allein in den oberbayerischen Erstaufnahmeeinrichtungen insgesamt 1819 Menschen registriert, im vergangenen Jahr waren es 2691 Personen. »Wir rechnen mit einem weiteren Anstieg der Asylbewerberzahlen«, erklärt der Vizepräsident der Regierung von Oberbayern, Ulrich Böger.
Für dieses Jahr rechnet das bayerische Arbeitsministerium aufgrund von Schätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge allein in Oberbayern mit einem zusätzlichen Bedarf von 1000 bis 1800 Plätzen. Schon jetzt platzen die Gemeinschaftsunterkünfte aus allen Nähten. »Die Unterbringungskapazitäten sind nahezu ausgeschöpft«, erklärt Böger. Deshalb suche die Regierung von Oberbayern auch dringend nach weiteren Gebäuden. In dem kargen Zimmer von Rahumi spiegelt sich das fahle Licht der Neonlampe auf dem Linoleumboden. Auf dem Tisch liegt ein Bestellzettel. Auf diesem Formular kann Rahumi ankreuzen, was er essen möchte. Zwei Mal pro Woche bekommt er dann ein Essenspaket zugeteilt. Abwechslung gibt es nur wenig in der Kaserne. Manchmal spielt Rahumi mit seinen Leidensgenossen im Gemeinschaftsraum eine Runde Kicker oder Tischtennis. Oder er schaut Fernsehen. Das Gelände verlässt Rahumi nur selten, denn zu Fuß dauert es gut eine Stunde bis in die Innenstadt. Und was sollte er dort tun ohne Geld?
Spätestens in drei Monaten, so hofft Rahumi, wird er die Bayernkaserne verlassen. Sollte er als minderjähriger Flüchtling anerkannt werden, bekommt er einen Amtsvormund zugewiesen - ein Mitarbeiter des Jugendamtes - und käme dann in ein Wohnheim der Jugendhilfe. Wohin es geht, ist aber noch offen, das Verfahren läuft noch.
Bis dahin lernt Rahumi fleißig Deutsch. »Kein Problem« sagen geht jedenfalls schon. Und »Servus«.
Rieke C. Harmsen
Quelle: Evangelisches Sonntagsblatt Bayern