Süddeutsche Zeitung, 02.07.2013

Verzweiflung im eiskalten Burgen-Land

Ein Kommentar von Bernd Kastner


Eine Woche lang war in der Münchner Innenstadt eine Attraktion der besonderen Art zu besichtigen. Eine Burg stand da, errichtet aus Pavillons und Plastikplanen, darin Flüchtlinge im Durststreik. Viele Münchner haben geschimpft über den Verhau und die frechen Forderungen der Flüchtlinge, die bleiben wollen. Dabei haben die Bürger vergessen, dass sie selbst in einer Burg leben, einer viel komfortableren, bewehrt mit Mauern aus Paragrafen. Diese Burg nennt sich Europa.

Wie in einem Brennglas waren auf ein paar Quadratmetern Münchner Boden die Folgen von zwei Jahrzehnten Asylpolitik zu betrachten. In beiden Festungen, der europäischen und der aus Zelten, hatten und haben Hardliner das Sagen. Hier Politiker, die sich christlich und sozial nennen - dort Anführer, die sich als Sprachrohr der Verzweifelten geben. Sie schaukeln sich gegenseitig hoch, die im Anzug und die im Regencape.

Essenspakete bedeuten Entmündigung

Selbstverständlich dürfen Politiker aus Gründen der Staatsräson sagen, dass der Rechtsstaat seine Gesetze einhält und nicht nachgibt. Aber die Regierenden sollten nicht von Erpressung sprechen oder Vorzugsbehandlung, nach der die Asylsuchenden angeblich gierten. Es ist nötig, genau hinzuschauen, auf die im Camp und die Unzähligen in den Unterkünften: Hinter den radikalen Lautsprechern stehen Tausende, die nichts weiter als einen menschlichen Umgang fordern.

Die Residenzpflicht, die etwa in Bayern das Verbot bedeutet, den einmal zugewiesenen Regierungsbezirk zu verlassen, behindert zum Beispiel die dringend nötige Behandlung Traumatisierter - wenn sie von Landshut nur mit großem bürokratischen Aufwand nach München fahren dürfen, zum weit und breit einzigen Therapiezentrum (mit dem hoffnungsfrohen Namen Refugio). Essenspakete sind keine leckeren All-Inclusive-Pakete, sondern bedeuten eine Entmündigung der Empfänger.

Dass es den Staat obendrein günstiger käme, die Flüchtlinge selbst in den Supermarkt gehen zu lassen, zeigt den Zynismus hinter der Regel. Das Arbeitsverbot wiederum ist Munition für jene, die in Asylsuchenden Sozialschmarotzer sehen. So sind viele hochqualifizierte Menschen zur Untätigkeit gezwungen; das fördert Frust und Depression.

Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ist nicht nur dann schäbig, wenn die Behörden uralte Container hernehmen. Wer wildfremde Menschen in ein Vierbettzimmer steckt, nimmt kulturelle Konflikte in Kauf, die dann das Vorurteil nähren, dass die Flüchtlinge sich nicht zu benehmen wissen. Wenn der Staat Familien auf der Flucht an der deutschen Grenze auseinanderreißt, dann darf sich niemand wundern, wenn die Betroffenen diesen Rechtsstaat infrage stellen.

Willkommensgruß aus der großen, warmen Burg Europa

Aus all diesen Bausteinen setzt sich die Politik der Abschreckung zusammen: Flüchtlinge sollen erst gar nicht kommen, und wenn doch, sollen sie schnell wieder raus. Doch diese Strategie funktioniert nicht. Wer vor Krieg oder Verfolgung flieht, erkundigt sich nicht vorher, was in deutschen Paragrafen steht. Und wer geht freiwillig zurück, wenn er auf monatelanger Flucht Schreckliches erlebt hat?

Die Politik hat am Münchner Rindermarkt richtig reagiert, sie hat Menschenleben geschützt und auch den Rechtsstaat. Aber das genügt nicht. Kalt und nass war es nicht nur eine Woche lang im Camp, die ganze Politik ist erstarrt in Eiseskälte. Es ist höchste Zeit, die Alltagsschikanen gegen Flüchtlinge zu beenden und Strukturen zu stärken, die aus der Mitte der Gesellschaft erwachsen. Ein Projekt wie "Save me" zum Beispiel, in dem Bürger Flüchtlinge als Paten begleiten, zeigt, wie viel positives Engagement es auch gibt. Save me! Das ist die Hoffnung der Verzweifelten und ein Willkommensgruß derer, die in der großen, warmen Burg Europa leben.

Quelle: Süddeutsche Zeitung

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