Süddeutsche Zeitung, 25.10.2012
"Sie versuchen hier zu überleben"
Sinti und Roma aus Serbien und Mazedonien
1992 versprach die Bundesregierung ein Mahnmal errichten zu lassen, das an die während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma erinnern soll. Erst 20 Jahre später wird das Versprechen eingelöst. Viele Überlebende des Holocausts sind bereits gestorben. Bei der offiziellen Einweihungsfeier sprach auch Angela Merkel. Deutschland werde sich in der EU für die Rechte von Sinti und Roma einsetzen, sagte sie. "Es ist eine deutsche und eine europäische Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, wo auch immer, innerhalb welcher Staatsgrenzen auch immer sie leben." Es ist ein neues Versprechen. Doch nur einen Tag nach dem es ausgesprochen wurde, wird der Glauben an dessen Einhaltung von Merkels Innenminister Hans-Peter Friedrich schon wieder erschüttert.
Weil die Zahl der Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien steigt, will er schärfere Regeln für Asylbewerber. 80 bis 90 Prozent der Antragssteller aus diesen Ländern gehören nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Volksgruppe der Sinti und Roma. Diese bezichtigt er nun des "Missbrauchs unseres Systems". Damit ein Asylantrag in Deutschland weniger attraktiv ist, will Friedrich die beiden Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklären.
Obwohl in Serbien und Mazedonien seit vielen Jahren Frieden herrscht, kamen im September weit mehr Flüchtlinge aus diesen Ländern, als aus Syrien oder Afghanistan. Mit 1395 Anträgen in diesem Monat hat sich die Anzahl von Anträgen serbischer Staatsbürger im Vergleich zum Vorjahr fast vervierfacht. Tatsächlich haben die meisten Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien kaum eine Chance mit ihren Anträgen auf Asyl. "In den meisten Fällen waren die vorgebrachten Gründe nicht ausreichend", sagte ein Sprecher des BAMF.
Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, versteht das nicht. Es sei leichtsinnig zu behaupten, die Menschen kämen nur hierher, um sich ein schönes Leben zu machen. "Sinti und Roma sind in Mazedonien und Serbien Opfer schwerster Diskriminierung", sagt Burkhardt. Diskriminierung könne im Asylverfahren als Fluchtgrund gewertet werden, wenn sie zu Menschenrechtsverletzungen führt. Innenminister Friedrich wirft er "populistische Stimmungsmache im Vorwahlkampf" vor.
Das BAMF sei verpflichtet, jeden Fall individuell zu prüfen - ohne das Vorurteil, Antragsteller aus bestimmten Ländern bräuchten ohnehin keinen Schutz. Genau das will Innenminister Friedrich ändern. Sollten Serbien und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden, wie der Innenminister sich das vorstellt, dann könnten die Barzahlungen für Asylbewerber aus diesen Ländern gekürzt und deren Anträge schneller bearbeitet werden - und somit auch schneller abgelehnt werden.
In Serbien leben nach Angaben der Regierung 450.000 Sinti und Roma. Amnesty International berichtet, dass die meisten von ihnen in illegal errichteten Siedlungen wohnen, die teilweise Slums ähneln - ohne Wasserversorgung oder Elektrizität. Einem Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz zufolge, gehören sie in Serbien zur ärmsten Bevölkerungsgruppe.
Besonders im Winter ist die Lage der Sinti und Roma deshalb prekär. Bereits 2011 stieg zu Herbstbeginn die Zahl der Asylbewerber aus diesen Ländern plötzlich an. Auch in diesem Jahr ist diese Entwicklung zu beobachten. "Sie fliehen vor dem nahenden Winter und versuchen hier zu überleben", sagt Günther Burkhardt.
EU fordert Strategien
In ihrer Heimat erhalten die Sinti und Roma der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz zufolge selten eine Registrierung. Dadurch würde der Zugang zu Arbeit, Bildung und medizinischer Versorgung erschwert. Als Angestellte verdienten sie 48 Prozent weniger als andere. Die Mehrheit verrichte meist nur saisonale Arbeit in der Landwirtschaft oder auf dem Bau, heißt es. Die Kinder würden oft in eigene Klassen gesteckt und erfahren regelmäßig Diskriminierung durch Lehrer und Mitschüler.
In dem Bericht ist auch immer wieder die Rede davon, dass Sinti und Roma regelmäßig Opfer rassistischer Übergriffe würden. Im Juni 2010 sei in einer Siedlung ein Jugendlicher festgenommen worden, der des Mordes verdächtigt wurde. Daraufhin hätten Anwohner tagelang die Siedlung belagert, Steine gegen Häuser geworfen und rassistische Parolen gerufen. Die Polizei habe erst Tage später eingegriffen.
In Serbien habe die Regierung dem Bericht zufolge bereits einzelne Maßnahmen ergriffen und kleine Erfolge erzielt, etwa im Wohnbereich. In Mazedonien scheint das bisher noch nicht der Fall zu sein. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz appelliert in einem weiteren Bericht an die Regierung des Landes, sich stärker um die Minderheit zu kümmern.
Im Mai dieses Jahres forderte auch die Europäische Kommission die Mitgliedsstaaten auf, nationale Strategien zur Integration der Sinti und Roma umzusetzen, denn mit 12 Millionen Menschen gelten sie als die größte ethnische Minderheit Europas. Auch Mazedonien und Serbien wollen Mitglied der EU werden. "Es ist für mich schwierig nachzuvollziehen, dass die EU mit Ländern Beitrittsverhandlungen führt, in denen diese Minderheit Rassismus ausgesetzt sind", sagt Burkhardt. Die Europäische Union brauche endlich eine Strategie zur Bekämpfung der Diskriminierung.
Antonie Rietzschel
Quelle: Süddeutsche Zeitung