Süddeutsche Zeitung, 01.07.2013
Seehofer überprüft Asylpolitik
Hungerstreik in München
Der Hunger- und Durststreik der Flüchtlinge auf dem Rindermarkt scheint Bewegung in die bayerische Asylpolitik zu bringen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) will den Protest auf dem Rindermarkt zum Anlass nehmen, die bisherige Politik zu überprüfen. Für Montagabend lud er nach Informationen der Süddeutschen Zeitung zu einem außerordentlichen Spitzentreffen mit Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP), Innenminister Joachim Herrmann und Sozialministerin Christine Haderthauer (beide CSU) sowie den beiden Fraktionschefs Christa Stewens (CSU) und Thomas Hacker (FDP). Seehofer, so heißt es, sei eine vernünftige, menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge wichtig. Hacker hatte noch während der Aktion am Freitag angekündigt, die Lebensbedingungen für Asylsuchende verbessern zu wollen.
Fünf der Flüchtlinge, die sich am Sonntag, als das Camp geräumt wurde, in lebensbedrohlichem Zustand befanden, lagen am Montagnachmittag noch in Krankenhäusern, sollten teilweise aber noch am selben Tag entlassen werden. Etwa die Hälfte der 49 Flüchtlinge vom Rindermarkt sei laut einem Sprecher des Sozialreferats von der Stadt in Pensionen und Hotels untergebracht worden.
Darunter seien auch die beiden Familien aus Afghanistan und Nigeria. Sozialreferentin Brigitte Meier hatte zunächst erklärt, dass man den Familien Apartments zur Verfügung stelle. Etwa 20 Hungerstreikende seien bei Unterstützern untergekommen. Unklar ist, ob die Flüchtlinge wieder in die ihnen zugewiesenen Bezirke zurückgeschickt werden. Laut Stadt werde dies demnächst mit den zuständigen Bezirksregierungen und Ausländerbehörden geklärt.
Die von der Stadt untergebrachten Asylsuchenden würden sozialpädagogisch betreut. Wenn nötig könnten sie auch die Hilfe von Refugio, dem Behandlungszentrum für Flüchtlinge, in Anspruch nehmen, sagt Geschäftsführer Jürgen Soyer. Er zeigt sich nicht überrascht von dem lebensgefährlichen Protest: "Wir haben uns eher gewundert, dass so etwas nicht schon viel früher passiert ist." Viele Flüchtlinge kämen aufgrund der in der Heimat und auf der Flucht erlittenen Traumata in suizidaler Stimmung zu Refugio, "das beschäftigt uns ständig". Die Hoffnungslosigkeit werde verstärkt durch die schlechten Lebensbedingungen in den Unterkünften.
Die Innere Mission (IM) hat die Aktion am Rindermarkt scharf kritisiert: "Wir befürchten, dass der Sache der Flüchtlinge und der Flüchtlings-Sozialarbeit ein Bärendienst erwiesen wurde", sagte IM-Vorstand Günther Bauer. Zwar bestehe kein Zweifel an der "individuellen Verzweiflung" der Hungerstreikenden. Diese sei aber von "Akteuren, die wir nicht kennen" für politische Zwecke instrumentalisiert worden.
"Die Zahlen werden steigen"
Dabei müsse sich München nach Anschauung von Bauer und von Lisa Ramzews, Leiterin der IM-Flüchtlingssozialarbeit, auf höhere Ankunftszahlen einstellen: Betrug die Zahl der in der Stadt untergebrachten erwachsenen Flüchtlinge bislang rund 900, so seien es derzeit etwa 1100. Ramzews: "Wir müssen endlich einsehen: Die Zahlen werden steigen." 1500 Flüchtlinge in der Stadt hält sie für möglich. Sie und Bauer forderten deshalb eine andere Politik im Umgang mit Menschen fremder Herkunft. Derzeit habe jeder Mitarbeiter der Flüchtlingssozialarbeit 180 Klienten zu betreuen - was für jeden Klienten nicht einmal eine Viertelstunde bedeutet.
Die Stadt München will angesichts der ebenfalls sehr hohen Zahl an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein zusätzliches Wohnprojekt in der Effnerstraße einrichten, das auf die wachsende Gruppe von jugendlichen Schwangeren und Müttern zugeschnitten ist. Das Thema steht an diesem Dienstag auf der Tagesordnung des Kinder- und Jugendhilfeausschusses im Stadtrat. Das Gebäude mit vier Zweizimmerwohnungen, in dem 20 Flüchtlinge unterkommen sollen, ist bereits seit Juni angemietet, wurde seitdem umgebaut und soll von Juli an belegt werden. Zudem sollen für die Klientel minderjähriger und heranwachsender (18 bis 21 Jahre) Flüchtlinge zusätzliche Betreuungsstellen geschaffen werden. Derzeit leben gut 1200 in München.
Stephan Handel, Dominik Hutter und Bernd Kastner
Quelle: Süddeutsche Zeitung