WDR, 18.07.2012
Reichen 224 Euro für ein menschenwürdiges Leben?
Leistungssätze für Asylbewerber
Seit einigen Tagen demonstriert der Iraner Arash Dosthossein zusammen mit anderen Flüchtlingen vor dem Düsseldorfer Landtag. Sie protestieren vor allem gegen die Zustände in den Flüchtlingsheimen – die Lebensbedingungen dort halten sie für unmenschlich. Dosthossein ist seit September 2011 in einem Asylbewerberheim in Gräfrath untergebracht. Tag für Tag muss er dort ausharren – die Chance, den tristen Zuständen für einen Tag lang zu entkommen, mal einen Kaffee in der Stadt zu trinken, hat er nicht. Der Grund: Dosthossein muss mit 40 Euro Taschengeld im Monat auskommen, ansonsten werden ihm Sachleistungen und Wertgutscheine in Höhe von rund 180 Euro im Monat zur Verfügung gestellt. "Mein Taschengeld brauche ich für Fahrten zum Amt auf", sagt er. "Telefonate in die Heimat oder einen Besuch im Internet-Café kann ich mir nicht leisten."
Betrag wurde seit 1993 nicht mehr erhöht
Wieviel Geld Asylsuchende erhalten, wurde im Asylbewerberleistungsgesetz, das 1993 in Kraft trat, festgelegt. Seither wurde der Satz nicht mehr erhöht: 224,97 Euro monatlich, in bar und als Sachleistung, Familienangehörige erhalten jeweils 199 Euro, und Kinder erhalten bis zum siebten Lebensjahr 133 Euro. "Ursprünglich sollte diese Leistung Asylbewerbern für die Dauer ihres Verfahrens, für rund ein Jahr, gezahlt werden", sagt Claudius Voigt vom Flüchtlingsrat NRW. "Inzwischen ist jedoch nicht nur die Bezugsdauer von einem auf vier Jahre erhöht, sondern auch der Kreis der Leistungsempfänger sukzessive erweitert worden. Neben Asylsuchenden bekommen nun auch Kriegsflüchtlinge und Geduldete diese Summe." Im Jahr 2010 erhielten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 130.000 Menschen solche Leistungen.
Folgenreiches Urteil aus dem Jahr 2010
Gut 30 Prozent weniger als Hartz IV, das sei "evident unzureichend“", befanden die Richter des Landessozialgerichts in Essen im Jahr 2010. Das Gericht hatte den Fall zweier Kläger aus Nordrhein-Westfalen zu verhandeln - eines 35-jährigen Irakers aus Eschweiler und eines elfjährigen Mädchens aus Liberia, wohnhaft in Stolberg. Vertreten wurden die beiden von der Kölner Anwältin Eva Steffen, die seit Jahren mit etlichen Klagen zum Asylbewerberleistungsgesetz befasst ist. "Bis zum Jahr 2010 fanden aber die Klagen zur Höhe der Leistungsbezüge bei den Richtern kein Gehör", sagt sie. Dann jedoch erfolgte im Jahr 2010 in Karlsruhe das Urteil, wonach die bis dahin gültigen Hartz-IV-Sätze als zu niedrig eingestuft wurden, um ein "menschenwürdiges Existenzminimum" zu garantieren.
Keine klare Berechnungsgrundlage
"Es war klar, dass dieses Urteil auch Auswirkungen auf die Asylgesetzgebung haben wird", so Eva Steffen. Tatsächlich stellte das Landessozialgericht in Essen fest, dass die Grundleistungsbeträge sowie das Taschengeld verfassungswidrig sind. In der Folge legten die Richter dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Frage zur Prüfung vor, ob die Höhe der Geldbeträge mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip vereinbar ist. In der im Juni erfolgten mündlichen Verhandlung äußerten die Karlsruher Richter bereits Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Leistungssätze – es bestehe eine "ins Auge stechende Differenz" zu den Hartz-IV-Sätzen. Vor allem kritisierte das Gericht jedoch, dass die Höhe der Leistungen nicht auf einer klaren Berechnungsgrundlage fußten. Eine fehlerhafte Berechnungsgrundlage hatten die Richter auch bei ihrem Urteilsspruch zu Hartz IV im Jahr 2010 ins Feld geführt – und damit eine Revision der Sozialgesetzgebung ins Rollen gebracht.
NRW-SPD und Grüne fordern Abschaffung des Gesetzes
Inzwischen hat die Politik selbst jedoch die Rechtmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes in Frage gestellt. Erst kürzlich veröffentlichte die SPD ein Eckpunktepapier zu dem Thema. Wichtigster Punkt sei die Erhöhung der "verfassungswidrigen" Regelsätze für Asylbewerber – es könne nicht angehen, dass die Leistungen seit 1993 nicht erhöht worden, die Preise aber um rund ein Drittel gestiegen seien. In Nordrhein-Westfalen ist die SPD sogar einen Schritt weiter gegangen und hat im Koalitionsvertrag mit den Grünen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vereinbart. "Wir müssen das Urteil jetzt abwarten", sagt Britta Altenkamp, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im NRW-Landtag, "aber in der Tat müssen wir uns die Grundsatzfrage stellen, ob im Jahr 2012 das Gesetz noch zeitgemäß ist."
Einwände von der CDU
"Dass die Regelsätze des Asylbewerberleistungsgesetzes nach fast 20 Jahren auf den Prüfstand gestellt werden sollen, halte ich für richtig", sagt Peter Biesenbach, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im NRW-Landtag. "Allerdings muss bei einer Neuberechnung beachtet werden, dass das Gesetz für Personen konzipiert wurde, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und daher nicht mit inländischen Bedürftigen vergleichbar sind." Diesen Einwand will Britta Altenkamp nicht gelten lassen. "Die Aufenthaltsdauer ist bei vielen länger als ursprünglich angenommen", sagt sie. Auch Claudius Voigt vom Flüchtlingsrat NRW erhebt Einwände: "Die Annahme, dass viele sich nur kurz hier aufhalten, stimmt nicht mit der Realität überein. Mehr als 50 Prozent der Betroffenen sind mehr als sechs Jahre hier, und auf Grund der Gesetzgebung sind sie für eine sehr lange Zeit gesellschaftlich ausgeschlossen."
Sollten die Karlsruher Richter die Klage bestätigen, können rund 80.000 Asylbewerber und Flüchtlinge auf mehr Geld hoffen – unter ihnen auch Arash Dosthossein.
Nina Giaramita
Quelle: WDR