Welt Online, 20.06.2012

"Menschenwürdiges Existenzminimum" vor Gericht


Asylbewerber in Deutschland können auf mehr Geld hoffen. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts äußerten am Mittwoch deutliche Zweifel daran, ob die Leistungen für Asylbewerber ausreichend sind.

Es bestehe eine "ins Auge stechende Differenz" zwischen den Hartz-IV-Sätzen und den deutlich niedrigeren Geldleistungen für Asylbewerber, sagte der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe.

Die Leistungen für Asylbewerber und andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht wurden seit 1993 nicht mehr erhöht. Während ein Hartz-IV-Empfänger einen Regelsatz von 364 Euro pro Monat erhalte, seien es bei Flüchtlingen etwa 220 Euro, sagte Kirchhof.

Hinzu komme, dass die Berechnung der Leistung für Asylbewerber "weder erklärt noch dokumentiert" wurde. Die Leistungen müssten sich genauso wie die Hartz-IV-Sätze "am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums messen lassen", sagte Kirchhof.

Zum Prozessvertreter der Bundesregierung sagte der Verfassungsrichter: "Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, könne es doch wohl nicht sein."

Essenspakete und Taschengeld

Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 verabschiedet. Der Bundesregierung ging es damals darum, die hohe Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland zu begrenzen. 1992 wurden mit knapp 440.000 Anträgen bislang die meisten Anträge gestellt.

Nach der Verschärfung des Asylrechts ging die Zahl stark zurück, im vergangenen Jahr wurden nur noch 47.000 Anträge gezählt.

Das Gesetz sieht vorrangig Sachleistungen in Form von Essenspaketen vor, hinzu kommt ein Taschengeld. Viele Bundesländer haben aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung aber auf Geldleistungen umgestellt.

130.000 Betroffene

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hält die Beträge für zu niedrig und hat das Gesetz in Karlsruhe zur Prüfung vorgelegt.

Ursprünglich galt das Asylbewerberleistungsgesetz nur für Flüchtlinge während des Asylverfahrens; die Anwendung wurde aber inzwischen auf andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht ausgeweitet.

Derzeit seien rund 130.000 Menschen betroffen, zwei Drittel von ihnen lebten seit mehr als sechs Jahren in Deutschland, sagte die Berichterstatterin des Verfahrens, Verfassungsrichterin Susanne Baer.

Ministerium will Gesetz überarbeiten

Anhand der Kläger der beiden Ausgangsverfahren werde deutlich, dass von der Regelung auch Menschen betroffen seien, die längerfristig in Deutschland blieben, sagte Klägeranwältin Eva Steffen: Einer der Kläger, ein Kurde, war 2003 aus dem Irak geflohen. Er wird seither in Deutschland geduldet.

Die Klägerin des zweiten Verfahrens, ein elfjähriges Mädchen, wurde sogar in Deutschland geboren. Ihr Mutter war aus Nigeria geflohen. Inzwischen hat das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit.

 "Wir haben uns auf den Weg gemacht, das Asylbewerberleistungsgesetz zu überarbeiten", sagte die Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Annette Niederfranke. "Auf diesem Weg haben wir noch nicht alle Schwierigkeiten zufriedenstellend gelöst."

Den Anspruch jedes Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimums erkenne die Bundesregierung an. Dabei habe der Gesetzgeber aber einen Spielraum.

"Es geht um das menschenwürdige Existenzminimum"

Ein konkretes Datum für einen neuen Entwurf konnte die Staatssekretärin nicht nennen. Verfassungsrichter Reinhard Gaier war damit nicht zufrieden: "Warum haben Sie nicht wenigstens eine Zwischenlösung? Es geht um das menschenwürdige Existenzminimum." Ein Termin für ein Urteil ist noch nicht bekannt.

Brandenburgs Sozialminister Günter Baaske (SPD) sieht gute Chancen, dass nach einer Entscheidung des Gerichts die Regelsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angehoben werden. Seit 1993 habe es noch nicht einmal einen Inflationsausgleich gegeben.

Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Es sei skandalös, dass Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) immer noch Tausenden Flüchtlingen das gesetzlich festgelegte Existenzminimum verweigere, sagte ein Sprecher von Pro Asyl.

Stefan von Borstel

Quelle: Welt Online

Zurück