der Freitag, 19.06.2012
Mehr als unwürdig
Verfassungsgericht Karlsruhe verhandelt am Mittwoch über das Asylbewerberleistungsgesetz: Die niedrigere Bemessung der Sozialleistungen für Migranten steht auf der Kippe
Es braucht nicht viel, um ein Kind glücklich zu machen: Vier Euro und 43 Cent pro Tag seien genug für ein sechsjähriges Mädchen, befand das Sozialamt Aachen in einem Bescheid an Frau Roberts (Namen von der Redaktion geändert) im Januar 2007. Als das Einkommen nicht mehr reichte, hatte sie für ihre Tochter Olivia Unterstützung beantragt. Damit Olivia genügend zu Essen hat und etwas zum Anziehen, Spielsachen und Bücher, notfalls ein Medikament bezahlt werden kann, und ab und an vielleicht sogar noch etwas übrig ist für einen Besuch im Kino.
Wenigstens doppelt so viel Geld hatte Frau Roberts sich erhofft – so wie es der Sozialstaat für deutsche Sechsjährige vorsieht. Doch gibt es für viele Kinder weniger, wenn sie keinen deutschen Pass haben. Frau Roberts stammt aus Liberia. Olivia, die im Jahr 2000 in Aachen geboren wurde, hatte eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis. Statt Hartz IV gab es deshalb Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
"Evident unzureichend"
„Warum soll ein ausländisches Kind weniger bekommen als ein deutsches Kind?“, fragt Eva Steffen. Sie arbeitet als Anwältin in Köln. Für Olivia legte sie eine Klage beim Aachener Sozialgericht ein. Das Gericht wies die Klage ab, und stützte sich auf den Wortlaut des Gesetzes. Steffen rief daraufhin das Landessozialgericht in Essen an. Die Richter in Essen haben ähnliche Bedenken wie die Anwältin, sie sind der Ansicht, dass das Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig ist: Die Leistungen seien „evident unzureichend“, um eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten. Zudem sei die Höhe der staatlichen Unterstützung „ins Blaue hinein“ geschätzt worden, statt den Bedarf der Betroffenen konkret zu berechnen. Das Landesozialgericht legte das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vor. Am morgigen Mittwoch wird in Karlsruhe verhandelt, in ein paar Monaten wird die Entscheidung fallen, ob das Sonderrecht für Migranten bestehen bleibt.
Das Asylbewerberleistungsgesetz gilt nicht nur für Kinder. Erwachsene erhalten etwas mehr als 200 Euro, und damit 40 Prozent weniger als Empfänger von Hartz IV. Anders als der Name vermuten lässt, sind nicht nur Personen betroffen, die einen Asylantrag gestellt haben, sondern auch diejenigen mit einer Duldung, die nicht abgeschoben werden können, etwa weil sie schwer krank sind oder sie keinen Pass ihres Herkunftslandes haben. Die Leistungen wurden 1992 festgesetzt und seitdem nicht angehoben, das Gesetz spricht noch von D-Mark.
Geändert wurde es zwar im Laufe der Jahre immer mal wieder, allerdings nur zulasten der Betroffenen. Seit 2005 gilt es auch für Personen wie Olivia, die ein humanitäres Aufenthaltsrecht haben. Die regulären Sozialleistungen gibt es mittlerweile erst dann, wenn man vier Jahre lang die niedrigen Gelder tatsächlich erhalten hat – Pech also auch hier für Olivia, denn die Mutter hatte zwischenzeitlich gearbeitet und war auf gar keine Unterstützung angewiesen. „Diese Ausweitungen sind überhaupt nicht mehr nachvollziehbar,“ sagt Eva Steffen, „wo doch damit argumentiert wird, dass sich die Menschen nur vorübergehend in Deutschland aufhalten.“ So steht es nämlich in der Gesetzesbegründung. Tatsächlich leben fast 60 Prozent der Betroffenen seit mehr als sechs Jahren in Deutschland.
Taschengeld für Fahrkarten
Aber selbst wenn, warum brauchen Menschen, die nur für eine kurze Zeit in Deutschland leben, weniger Geld? Auch Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin hat kein Argument für diese Ungleichbehandlung, im Gegenteil: „Wenn die Menschen ihre Angehörigen im Ausland anrufen wollen, kostet das natürlich mehr.“ Zudem müssen viele in abgelegenen Gemeinschaftsunterkünften wohnen: „Sie dürfen dort keinen Festnetzanschluss haben, also müssen sie teure Handygespräche führen. Und wenn man auch noch regelmäßig zur Ausländerbehörde, zum Sozialamt oder zum Arzt in der Kreisstadt fahren muss, reicht das Taschengeld von 40,90 Euro im Monat oft nicht einmal für die notwendigen Fahrkarten“, sagt Classen. Er macht seit Jahren auf diese Probleme aufmerksam, auch treten immer wieder Migranten in den Hungerstreik, um auf ihre desolate Lage aufmerksam zu machen. Bislang ohne nennenswerten Erfolg.
Man wolle keinen Anreiz schaffen, aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen oder hier zu bleiben, hieß es, als das Gesetz 1992 beschlossen wurde. Vorangegangen waren die rassistischen Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, auf die das Bündnis aus Kohl-Regierung und SPD deutlich reagierte: Das Asylgrundrecht wurde abgeschafft, und die Migranten, die bereits in Deutschland sind, sollten möglichst schnell wieder gehen. Berechnet wurden bei der Festsetzung der Leistungen nicht die Bedürfnisse der Menschen, sondern allein die Einsparungen für den Staatshaushalt in Höhe von 2,5 Milliarden Euro.
Nicht zweierlei Maß
Das Bundesverfassungsgericht wird das Gesetz, so prognostizieren Experten, aus diesem Grund vermutlich für verfassungswidrig erklären – jedenfalls, wenn es seiner eigenen Rechtsprechung treu bleibt: 2010 hatte das Gericht die Hartz- IV-Sätze verworfen, und ein transparentes und sachgerechtes Verfahren gefordert, um die Sicherung eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ zu bemessen. So können die Menschen wenigstens auf eine Anpassung an die Preissteigerungen hoffen. Seit 1992 sind das gut 30 Prozent.
Ob das Urteil darüber hinaus viel zum Positiven ändert, ist fraglich. Die soziale Sonderbehandlung von Migranten findet das Gericht nämlich an sich nicht verwerflich, in einer anderen Entscheidung vor sechs Jahren hatten die Richter hierbei der Legislative bereits einmal ein „sozialpolitisches Ermessen“ eingeräumt. Doch Classen erinnert daran, dass es um die Menschenwürde geht: „Es kann keine zwei Arten von Existenzminimum geben.“
Matthias Lehnert
Quelle: der Freitag