3sat, 18.09.2012

Marsch auf Berlin

Flüchtlinge protestieren gegen deutsche Asylpolitik

 

Den Beitrag können Sie unter folgendem Link ansehen: http://www.3sat.de/mediathek/?display=1&mode=play&obj=32561

 

 

Über Monate haben Flüchtlinge in neun deutschen Städten Protestlager aufgeschlagen, um gegen die deutsche Asylpolitik zu demonstrieren, gegen das jahrelange Leben in Lagern, die Residenzpflicht und das Arbeitsverbot. Ihr großes Projekt ist der Marsch von Würzburg nach Berlin, gegen alle gesetzlichen Auflagen. Seit dem 8. September 2012 sind die Flüchtlinge schon unterwegs. Wir haben sie beim Grenzübergang von Bundesland zu Bundesland begleitet.


Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, waren vorher schon jahrelang auf der Flucht. Derzeit sind es viele Iraner und Afghanen. Oft haben sie tausende Kilometer zurückgelegt: zu Fuß, mit Booten oder über dem Radkasten eines LKW - immer versteckt, immer heimlich. Wer nach Deutschland kommt, muss sich auf eine lange Wartezeit und auf strikte Gesetze einrichten. Und genau deshalb sind die Flüchtlinge wieder unterwegs, zu Fuß und öffentlich, auf einem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin, um gegen die deutsche Asylpolitik zu demonstrieren. "Wir wollen unsere Zelte am liebsten genau auf der Grenze aufstellen", sagt Nima Ezatpour aus Iran. "Aber diese Grenze ist nicht ganz so wie normale Grenzen. Es gibt keine klare Markierung oder eine weiße Linie auf dem Boden. Sie ist etwas schwer zu finden, mitten im Wald. Das heißt, wie müssen uns entscheiden: Entweder wir campen in Thüringen oder wir bleiben in Bayern."

Täglich 20 Kilometer

In Deutschland gilt die Residenzpflicht. Selbst ihren Landkreis dürfen Flüchtlinge nicht verlassen. Obwohl sie auf ihrem Marsch illegal unterwegs sind, verhält sich die Polizei erstaunlich unauffällig und gibt ab und zu sogar Geleitschutz. "Heute sind wir etwa sieben Stunden gelaufen, sechs bis sieben Stunden und es ist der fünfte Tag des Protestmarsches", berichtet Ezatpour. Täglich rund 20 Kilometer, fünf bis sechs Wochen lang, bei jedem Wetter. Das ist ein strammer Marsch, der ohne die Hilfe von Unterstützern kaum zu schaffen wäre. Mit Transportern und Volksküche begleitet ein ganzer Treck von freiwilligen Helfern die Flüchtlinge. Ein Großteil der Arbeit sei, "einfach sicherzustellen, dass man abends einen Platz hat, wo die Leute ankommen können", berichtet der Flüchtlings-Aktivist David Braun. "Die Strecke ist einigermaßen festgegeben, aber diese ganze Logistik können nicht die Leute machen, die laufen", so Braun. Das müssten die Unterstützer oder auch die Bevölkerung übernehmen, die mehr oder weniger auch spontan gastfreundlich sei.

In ihren Asylanten-Heimen sind die Flüchtlinge isoliert. Der gemeinsame Marsch bringt für viele eine neue Erfahrung: endlich wieder selbst zu entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Unterwegs holt sie auch die Erinnerung wieder ein. "Wir alle kennen die Angst", sagt Nima Ezatpour. "Wir kennen die Ungewissheit. Wir haben schon einmal alles verloren, wir sind aufgebrochen, ohne zu wissen, was geschehen würde. Wir müssen uns erinnern, wie wir in diesem Moment unseres Lebens zurecht gekommen sind und unser Leben wieder selbst in den Griff bekommen haben. Auch jetzt kannst du Gründe finden, am Leben bleiben zu wollen."

Gemeinsame Hoffnung


Das gilt für alle, die aufgebrochen sind. Über Sprachgrenzen hinweg wächst hier der gemeinsame Glaube an eine Idee und die Hoffnung, die Situation der Flüchtlinge in Deutschland aus eigener Kraft zu verändern. Nach einer feuchten Nacht mit nur drei Grad ist die Belohnung am nächsten Morgen goldenes Licht über dem Thüringer Wald. Die meisten Flüchtlinge haben wegen der Kälte gemeinsam im großen Zelt geschlafen. Für den bevorstehenden Grenzübergang haben sich die Flüchtlinge eine besondere Aktion ausgedacht, die eine Art Befreiungsakt sein soll. "Wie weit wir wirklich gehen können, hängt auch davon ab, in wieweit die verschiedenen Flüchtlingsgruppen den Protest unterstützen", sagt Osaren Igbinoba, Flüchtlings-Aktivist von "Die Karawane". "Es ist nicht nur eine Frage des Protestmarsches nach Berlin. Es ist für die Leute eben auch eine Frage der Einigkeit untereinander. Das ist für die Flüchtlinge, die protestieren, die größte Herausforderung."

Der Protest der Flüchtlinge richtet sich gegen die Residenzpflicht, gegen die Lager, gegen das Arbeitsverbot und die Behandlung als Bürger zweiter Klasse. An der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze haben sie beschlossen, gemeinsam ihre deutschen Duldungspapiere zu zerreißen. "Dieser Ausweis steht für alles, wogegen wir kämpfen", sagt Sadegh Shahvaroghi Farahani aus Iran. "Deshalb wollen wir ihn zerstören und an das Bundesamt für Flüchtlinge schicken, damit sie all das korrigieren und an uns zurück schicken."

Die Flüchtlinge zerreißen ihre Ausweise. Osaren Igbinoba von "Die Karawane" sagt: "Wenn die Leute sich einig sind, ist das ein starkes Signal - auch gerade für diejenigen, die in den Heimen sind. Manche von ihnen sind Nationalisten, manche normale Leute, die einfach nur ein komfortables Leben anstreben wie so mancher Deutsche oder Nichtdeutsche. Andere wiederum fühlen sich stark verunsichert, aber normalerweise kann Solidarität da viel bewirken, um die Unsicherheit zu verdrängen." Wieder sind die Flüchtlinge unterwegs. Gemeinsam haben sie sich von der Last befreit, die diese Ausweise für sie symbolisieren: Duldung. "Wir sind jetzt frei", sagt Nima Ezatpour. Bis Berlin sind es noch rund 400 Kilometer. Schon nach sechs Tagen hat der Marsch die Flüchtlinge verändert. Auf der Strecke, die noch vor ihnen liegt, werden sich weitere aus ihren Heimen anschließen.

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