Evangelisches Sonntagsblatt Bayern, 19.12.2010
Keine Lebensperspektive
Proteste in bayerischen Flüchtlingslagern dauern an
Zum zweiten Mal in diesem Jahr protestieren Flüchtlinge mit einem Essenspaketeboykott in mehreren bayerischen Unterkünften für bessere Lebensbedingungen. Sie möchten kleinere Wohnungen mit mehr Privatsphäre, selbstständig einkaufen und sich frei bewegen können, arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Sie mussten aus ihrer Heimat fliehen, sind nun in einem fremden Land, weit weg von zu Hause, dürfen nicht arbeiten, ihre Stadt nicht verlassen, müssen sich Zimmer, Küche und Bad mit fremden Menschen teilen und bekommen ihr Essen in einem Paket geliefert - rund 7500 Flüchtlingen in den 118 bayerischen Flüchtlingslagern geht es so. »Solche Bedingungen machen langfristig krank«, sagt Matthias Schopf-Emrich, Leiter des Referats Migration beim Diakonischen Werk Augsburg. »Die Menschen werden depressiv oder aggressiv.«
»Das Anliegen der Flüchtlinge ist es, auf eigenen Füßen zu stehen«, sagt Schopf-Emrich. Deshalb geht es beim Boykott der Essenspakete auch weniger darum, dass den Flüchtlingen das Essen nicht schmeckt. »Sie wünschen sich das kleine Stückchen Freiheit, selbst einkaufen zu dürfen.«
Seit 19 Jahren betreut Schopf-Emrich Flüchtlinge in Augsburg, im Moment sind es zwischen 800 und 900 - »und jede Woche kommen neue an«. Die meisten sind Somalier, Afghanen oder Roma aus Serbien und Mazedonien.
Für den Protest in den bayerischen Flüchtlingslagern sieht er vor allem zwei Gründe. Der erste sind die uneingelösten Versprechen der Politik. Im April 2009 gab es eine Anhörung im bayerischen Landtag, bei der die Enge in den Gemeinschaftsunterkünften, das Arbeitsverbot und die starke Reglementierung des Alltags der Flüchtlinge zur Sprache kamen. Viele Flüchtlinge dürfen sich jetzt immerhin in ihrem Regierungsbezirk frei bewegen.
Ansonsten ist wenig passiert. Auch die im April 2010 vom Sozialministerium beschlossenen Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte - beispielsweise höchstens vier Personen pro Zimmer - werden vielerorts nicht umgesetzt und sind zudem oft sehr vage formuliert.
»Die Enge ist das zweite große Problem«, sagt Schopf-Emrich. Den beiden Augsburger Unterkünften in der Calmbergstraße und in der ehemaligen Flak-Kaserne an der Neusässer Straße bescheinigt er »Lagercharakter«: In der Calmbergstraße leben 140, in der Kaserne sogar 400 Flüchtlinge, meist in 6er-Zimmern. Diese Unterkunft soll im Juni 2011 geschlossen werden, für die Calmbergstraße fehle eine Schließungsperspektive - die Regierung begründet dies mit mangelnden Alternativen. Die Diakonie plädiert dafür, die Flüchtlinge in zwei bis drei neuen, kleineren Unterkünften »mit Wohnungscharakter« unterzubringen, wo sich höchstens zwei Menschen ein Zimmer teilen.
Das Diakonische Werk Augsburg versucht, die Flüchtlinge mit verschiedenen Hilfsangeboten zu unterstützen. Gemeinsam mit dem Caritasverband, der Integrationsprojekte gGmbH »Tür an Tür« und der Regierung von Schwaben bietet es den Flüchtlingen zum Beispiel Deutschkurse an. »Das hat der Staat eigentlich nicht vorgesehen«, so Schopf-Emrich. »Nach dem Motto: Bloß keinen Anreiz für Flüchtlinge schaffen zu bleiben oder für neue, zu kommen.«
Nach seinen Erfahrungen blieben letztlich jedoch 30 bis 60 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland. Deshalb lohne es sich, von Anfang an in die Ausbildung dieser Menschen zu investieren - »das ist nicht nur eine humanitäre Aufgabe, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Je länger man wartet, desto schwieriger wird die Integration.« Die Deutschkurse werden gut angenommen. »Viele Flüchtlinge sind enttäuscht, dass es nur zwei Termine pro Woche gibt.« Doch das Geld und die personellen Mittel der Diakonie und ihrer Partner sind knapp. »Im Moment sammeln wird Geld für Busfahrkarten, damit die Flüchtlinge auch im Winter zu ihren Kursen kommen können.«
Neben Hausaufgabenbetreuung, Kleinkindergruppen und Freizeitmaßnahmen für Jugendliche bietet die Diakonie in Zusammenarbeit mit dem Bezirkskrankenhaus Augsburg auch eine Beratung für Flüchtlinge mit psychischen Problemen an. »Viele Flüchtlinge sind durch ihre Flüchtlingsgeschichten traumatisiert. Aber viele werden auch erst hier krank. Wir erleben immer wieder, wie die Menschen abbauen. Am Anfang waren sie glücklich, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit und etwas zu essen zu haben. Aber wenn es dann nicht weitergeht und sie nicht arbeiten dürfen, werden sie krank.«
Der Boykott der Essenspakte war ein Hilferuf. Jetzt warten die Flüchtlinge auf ein politisches Signal.
Imke Plesch
Quelle: Evangelisches Sonntagsblatt Bayern