Domradio, 18.07.2012

Katholische Kirche fordert Ende des Asylbewerberleistungsgesetzes

Unteilbare Menschenwürde


Den Bischöfen in Deutschland geht das jüngste Karlsruher Urteil, dem zufolge Flüchtlinge mehr Geld erhalten, nicht weit genug. Sie fordern die komplette Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. "Es gibt keinen sachlich überzeugenden Grund, warum Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge anders behandelt werden sollen als diejenigen, die Sozialhilfe erhalten", sagt Bischof Trelle.

Die Unterscheidung von Asylbewerbern und Sozialhilfeempfängern wirke diskriminierend. Dennoch begrüßte der Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet habe, unverzüglich eine deutliche Erhöhung der Leistungen für Asylbewerber vorzunehmen.

Trelle: Gesetz diene eher der Abschreckung von Flüchtlingen

Das Gericht habe unmissverständlich klar gestellt: Die Leistungen müssen nicht nur die physische Existenz sichern, sondern auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen. Die Leistungen sind zudem regelmäßig zu überprüfen und anzupassen.

Die Deutsche Bischofskonferenz hatte seit langem Kritik am Asylbewerberleistungsgesetz geübt. "Unserer Auffassung nach diente es immer eher der Abschreckung als der angemessenen Versorgung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, die den Status der Duldung haben", urteilte der Bischof von Hildesheim.

BVerfG: Menschenwürde lässt sich migrationspolitisch nicht relatieren

Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil ausdrücklich Bezug auf die Menschenwürde-Garantie der Verfassung genommen. Die Aussage der Richter, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist, formuliere einen Maßstab, der für Regierung und Parlament auch bei anderen Fragen der Gestaltung von Zuwanderung eine verpflichtende Herausforderung beinhaltet, betonte Bischof Trelle.

Caritas-Präsident Peter Neher sieht in der Entscheidung die Kritik seines Verbandes bestätigt. Die Höhe der Leistungen müsse zumindest verfassungskonform angepasst werden, so Neher. "Asylbewerber sind keine Menschen zweiter Klasse - ihnen stehen wie allen anderen auch Leistungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum und eine angemessene Gesundheitsversorgung zu", so Neher. Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier betonte, das Urteil mache der Verweigerungshaltung der Bundes- und Landesregierungen in den vergangenen Jahren endgültig ein Ende. Es sei beschämend, dass ein Urteil erforderlich geworden sei.

Jesuiten-Flüchtlingsdienst fordert Arbeitsrecht Asylsuchende

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) forderte ein Arbeitsrecht für Asylsuchende in Deutschland. Damit Flüchtlinge in Deutschland in Würde leben könnten, müsse nach der Karlsruher Entscheidung auch das Arbeitsverbot fallen, sagte der JRS-Direktor für Deutschland, Martin Stark.  

Das Deutsche Kinderhilfswerk begrüßte das Urteil ebenfalls. "Rund 40.000 Flüchtlingskinder in Deutschland könnten jetzt auf mehr Fairness hoffen", so dessen Präsident Thomas Krüger. Pro-Asyl Geschäftsführer Günter Burkhardt forderte, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen. Die entwürdigende Praxis, Asylsuchende mit Lebensmittelpaketen und anderen Sachleistungen abzuspeisen, müsse beendet werden. Flüchtlinge dürften zudem nicht länger gezwungen werden, in Lagern zu leben.

Keine unmittelbare Auswirkung auf Länder, die Sachleistungen zahlen

Das Bundesverfassungsgericht hatte am Mittwoch in Karlsruhe entschieden, dass die Geldleistungen für Flüchtlinge erhöht werden müssen. Demnach verstößt das Asylbewerberleistungsgesetz gegen das Grundgesetz, weil die Leistungen unterhalb des Existenzminimums liegen. Statt 224 Euro muss der Staat bis zum Inkrafttreten eine neue gesetzliche Regelung 336 Euro im Monat an Flüchtlinge und Asylbewerber zahlen. Das Urteil hat allerdings nur unmittelbare Auswirkungen auf Bundesländer, die Geld- und nicht hauptsächlich Sachleistungen wie zum Beispiel Bayern zahlen.

Die Höhe der Geldleistungen sei unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist, urteilte das Gericht. "Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden, noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich", sagte der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof.

Gericht beruft sich auf Unantastbarkeit der Menschenwürde

Das Bundesverfassungsgericht berief sich in seiner Entscheidung auf Artikel 1 des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist: "Dieses Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu."

Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um "Wanderungsbewegungen" zu vermeiden, seien nicht zu rechtfertigen. "Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren", erklärte Kirchhof.

Der Gesetzgeber ist der Entscheidung zufolge verpflichtet, eine neue Regelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums für Flüchtlinge und Asylbewerber zu treffen. Bis zum Inkrafttreten gilt eine Übergangsregelung, die sich an der Harz-IV-Gesetzgebung orientiert. Statt 224 Euro erhalten die Betroffenen 336 Euro, und zwar rückwirkend ab dem 1. Januar 2011. Der berechnete Betrag enthält keinen Bedarf für Hausrat wie die Hartz-IV-Sätze, die aktuell für einen alleinstehenden Erwachsenen Leistungen in Höhe von 374 Euro vorsehen.

Urteil ist eine schallende Ohrfeige für die Politik

Das Urteil ist eine schallende Ohrfeige für die Politik. Und zwar für alle Parteien, die seit Anfang der 1990er Jahre in der Regierung vertreten waren. Für CDU/CSU und FDP also ebenso wie für SPD und Grüne. Nicht nur für Pro-Asyl-Chef Günter Burkhardt heißt der zentrale Satz des Urteils, dass die in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierte Menschenwürde "migrationspolitisch nicht zu relativieren ist". Erwägungen, das Leistungsniveau abzusenken, um keine Anreize für Flüchtling zu schaffen, könnten "kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen".

Die Karlsruher Entscheidung kommt wenig überraschend. Bereits in der mündlichen Verhandlung Mitte Juni hatte eine deutliche Mehrheit der Richter mit ihren Fragen Zweifel an der Ausgestaltung des Gesetzes zum Ausdruck gebracht. Der Senat wollte von den Vertretern von Bund und Ländern wissen, inwieweit der Gesetzgeber den Bedarf für Asylbewerber "transparent, sachgerecht und nachvollziehbar" berechnet und warum er den Betrag seit 1993 nicht erhöht habe.

Damit stellten die Richter exakt die Frage, die Vertreter von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren erfolglos in Berlin gestellt hatten. Jetzt aber ist die Regierung gezwungen, auch bei Asylbewerbern die Kriterien "transparent, sachgerecht und nachvollziehbar" anzuwenden, die ebenfalls der Erste Senat 2010 in seiner Hartz-IV-Entscheidung zur Berechnung von Sozialleistungen formuliert hatte.

Die Staatssekretärin im Bundessozialministerium, Annette Niederfranke, sagte unmittelbar nach der Verkündung der Entscheidung, Berlin akzeptiere das Urteil und werde es umsetzen. Ob damit allerdings, wie Pro-Asyl-Chef Burkhardt hofft, "eine Zäsur in der Flüchtlingspolitik der vergangenen 20 Jahre" verbunden ist, kann heute indes noch nicht bewertet werden.

Quelle: Domradio

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