Süddeutsche Zeitung, 19.07.2012

Karlsruhe: Asylbewerber leben menschenunwürdig

Verfassungsrichter weisen Bundesregierung an, die Leistungen deutlich anzuheben - "Das Existenzminimum ist für alle gleich"


Gut 130 000 Asylbewerber und Flüchtlinge bekommen ab sofort deutlich mehr Geld vom Staat. Das Bundesverfassungsgericht hat das Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt und eine umgehende Anhebung der Leistungen verfügt. Ein alleinstehender Asylbewerber erhält damit 336 statt bisher 224 Euro im Monat - solange, bis der Gesetzgeber ein neues Gesetz erlassen hat. In noch nicht abgeschlossenen Verfahren können Ansprüche sogar rückwirkend zum 1. Januar 2011 geltend gemacht werden.

Die Leistungen sind nach den Worten des Ersten Senats 'evident unzureichend' und verletzen damit das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. 'Als Menschenrecht gilt es für alle Personen, also auch für Asylbewerber, in gleichem Maße', sagte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof bei der Urteilsverkündung. Das Urteil erging im Wesentlichen einstimmig; allerdings votierten zwei der acht Richter gegen den Erlass einer Übergangsregelung. (Az: 1 BvL 10/10 u.2/11)

Die Leistungen sind aus Sicht des Gerichts schon deshalb offensichtlich zu niedrig, weil sie seit 1993 nicht mehr angehoben worden sind - trotz einer Preissteigerung von mehr als 30 Prozent. Der Senat trug dem Gesetzgeber auf, die neuen Sätze 'unverzüglich' in einem transparenten Verfahren realitätsgerecht zu berechnen - und zwar, wie bereits im Hartz-IV-Urteil von 2010 angeordnet, nach dem tatsächlichen Bedarf. Dazu gehöre nicht nur die physische Existenz, sondern auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und 'ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben'. Weil der Anspruch aus der Garantie der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet wird, sieht das Gericht keine Möglichkeit, niedrige Leistungen zur Abschreckung von Zuwanderern einzusetzen. 'Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren', heißt es in der Entscheidung.

Das Bundessozialministerium begrüßte, dass Karlsruhe mit dem Urteil 'klare Vorgaben' für eine Neufassung gemacht habe. Die Bundesregierung werde rasch eine verfassungsgemäße Neuregelung erarbeiten. Eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern sei bereits dabei, Eckpunkte aufzustellen. Die Länder müssen einem neuen Gesetz zustimmen, weil sie zusammen mit den Kommunen die Kosten für die Unterstützung tragen. Verlässliche Angaben über die Mehrkosten lagen am Mittwoch nicht vor, allein das Land Niedersachsen rechnet mit zusätzlichen Leistungen in Höhe von zwölf Millionen Euro.

Das Urteil stieß auf breite Zustimmung. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte, wenn die Existenz jahrelang gesichert werden müsse, dann könne sie 'nicht anders aussehen als bei einem Langzeitarbeitslosen'. SPD-Fraktionsvize Christine Lambrecht forderte zudem ein Ende des Sachleistungsprinzips, nach dem etwa Lebensmittelpakete ausgegeben werden. Dies sei teuer und schikaniere die Betroffenen.

W. JANISCH, R. Preuss

Quelle: Süddeutsche Zeitung

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