Nordbayerischer Kurier, 08.08.2009

Junge Kämpferin für Flüchtlinge

Die junge Kurdin Nissrin Ali setzt sich für die Rechte von Flüchtlingen ein. Foto: Lammel

BAYREUTH. „Ist das ein Heim oder ein Gefängnis?“, fragte sich Nissrin Ali, als sie das erste Mal ihr neues Zuhause in der Wilhelm-Busch-Straße in Bayreuth, die Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber, erblickte. In dem Augenblick entschied sie sich, gegen ihre Lage zu kämpfen.

Die 19-jährige Muslimin Nissrin Ali lebt seit dem 15. Oktober 2002 in Deutschland. Als sie zwölf Jahre alt war, musste sie mit ihrer Familie von einem Tag auf den anderen aus Syrien fliehen: „Als staatenlose Kurden wurden wir verfolgt. Man darf sich in Syrien als politischer Flüchtling nicht widersetzen“, erzählt Nissrin und wendet ihren Blick ab. Nach Informationen der schweizerischen Flüchtlingshilfe gewährt die Regierung Syriens muslimischen Kurden keinen syrischen Pass. Das bedeutet, sie bleiben staatenlos, da sie dort als Bürger zweiter Klasse gelten.

Nissrins Vater Walat Ali war in Syrien ein professioneller Autolackierer. Als jedoch ein Polizeibeamter für die Lackierung nicht bezahlen wollte, schubste er den Beamten. Aus Angst vor den Konsequenzen schickte Ali über einen Kollegen seiner Familie die Nachricht, in die Türkei zu fliehen, um ihn dann dort zu treffen. In Syrien würden Staatenlose ohne Grund täglich verhaftet, erklärt Nissrin, während sie versucht sich an die Flucht aus Syrien zu erinnern. Dort war die Familie nur geduldet, wie nun auch in Deutschland.

„Mein Vater war öfter ohne Begründung inhaftiert. Wir wollten, dass unsere Familie zusammenbleibt. Wäre mein Vater wieder ins Gefängnis gekommen, hätte das unsere Familie auseinandergerissen“, sagt die 19-Jährige. Um Koffer zu packen und sich von Freunden zu verabschieden, blieb keine Zeit, erklärt Nissrin. Ohne eine Vorstellung, was sie erwarten wird, sei die Familie Ali mit einem Auto in die Türkei gefahren. Nachdem sie sich dort einen Tag aufgehalten hat, ging die Flucht weiter. „Wir sind mit einem Lastwagen nach Deutschland geflohen. Ich hatte Angst. Wir wussten nicht, wohin wir fahren und was passieren wird“, erzählt Nissrin nüchtern. Inzwischen hat sie Abstand zu den damaligen Ereignissen gewonnen.

"Die Behörden wollen die Asylbewerber rausekeln." (Nissrin Ali)

Die Fahrt von der Türkei nach Deutschland habe sieben Stunden gedauert, berichtet Nissrin. Sie ist entschlossen, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bei Kontrollen an den Grenzübergängen und am Zoll mussten sie hinten ganz ruhig bleiben, damit die Beamten nichts merken. Immer in Angst, von der Polizei entdeckt zu werden. Nur nachts sei es möglich gewesen, kurz das Versteck in dem Lastwagen zu verlassen.

Nach Schätzungen des Hohen Flüchtlings-Kommissars der Vereinten Nationen, ein Amt für Schutz und Unterstützung von Flüchtlingen, sind weltweit über 44 Millionen Menschen auf der Flucht. Der Eintritt in die Europäische Union wird nur mit einem Visum gewährt. Dies besitzen die meisten Flüchtlinge nicht. Jährlich sterben Hunderte von Menschen, bevor sie Europa erreichen. Sie ertrinken im Mittelmeer, erfrieren oder ersticken in Lastwagen-Containern.

Nissrins Familie hat es nach Deutschland geschafft. „Als wir am Hauptbahnhof in München angekommen sind, wussten wir nicht, in welcher Stadt wir uns befinden. Mein Vater hat zwei arabisch sprechende Männer angesprochen und wurde daraufhin aufgeklärt. Die haben uns dann auch ins Asylbewerberheim geschickt“, so die 19-jährige Kurdin. Vorerst sei die Familie in die Erstaufnahme gekommen. Dort wurden Fotos gemacht, Anträge angenommen und die Eltern befragt, weshalb sie geflohen sind. Nissrin Ali weiß noch genau, dass sie sich fremd gefühlt hat: „Ich verstand die Sprache nicht. Es war alles zu viel für mich. Aus dieser Zeit habe ich nur noch wenige Erinnerungen.“

Die Erstaufnahmeeinrichtung ist meist ein umzäuntes Gelände mit großen Schlafsälen. Die Asylsuchenden werden dort untergebracht, registriert und erhalten zunächst eine Aufenthaltsgestattung, bis über ein Bleiberecht entschieden wird. Nach drei Monaten werden die Flüchtlinge einer Stadt zugewiesen. Das war auch der Fall bei Nissrins Familie, deren Asylantrag nicht anerkannt wurde. Die Familie bekam den Status der Duldung. Dies geschieht, wenn die Ausreise und die Abschiebung nicht möglich sind, weil der Pass fehlt. Nach Angaben von Pro Asyl, einer Menschenrechtsorganisation, leben rund 200 000 Geduldete in Deutschland.

Als sie über den ersten Tag in Bayreuth nachdenkt, klingt Nissrin traurig: „Erst in Bayreuth habe ich realisiert, dass wir nun wirklich weg waren. Dieser Gedanke hat mich erschreckt, als ich unser neues Zuhause betrachtete. Das Heim wirkte innen wie außen sehr rustikal und dunkel. Die Fenster sind alle nebeneinander, wie im Gefängnis.“ Nissrin lebte drei Jahre mit ihren fünf Geschwistern und ihren Eltern in einer Zweizimmerwohnung. Ohne Teppiche und Schränke. 2007 erhielt die Familie auf Nissrins Forderung, dass sie in solchen Verhältnissen nicht weiterleben können, eine Vierzimmerwohnung zugewiesen.

"Ich will nicht mehr so leben. Ich muss kämpfen." (Nissrin Ali)

Wehmütig erzählt Nissrin über ihren ersten Schultag: „Die Caritas hat uns nur einmal in die Schule gebracht und nichts weiter erklärt. Ich musste alles selbst meistern, ohne die Sprache zu können.“ Aber schon nach zwei Monaten habe sie die deutsche Sprache gelernt, erzählt sie stolz: „Ich lebe nun hier, deshalb muss ich auch die Sprache können. Das war vorerst mein erstes Ziel.“ Nissrin hatte in der achten und neunten Klasse nur Deutschunterricht. Sie widersetzte sich jedoch in der zehnten Klasse gegen die einseitige Lehre. Nissrin wollte wie eine „normale“ Schülerin behandelt werden und auch andere Fächer kennenlernen. „Ich musste immer für meine Rechte kämpfen“, betont sie. Für Nissrin ist das Selbstverständlichste nicht selbstverständlich. Als Geduldete hat sie keine Arbeitserlaubnis, da es „bevorrechtigte Arbeitnehmer“ aus den EU-Ländern gibt. Nissrin wiederholte deshalb freiwillig dreimal die neunte Klasse, weil sie keine Ausbildungsstelle annehmen darf. Nissrin erzählt hoffnungslos, dass sie auch von der Ausländerbehörde keine Unterstützung bekommt: „Sie wollen die Asylbewerber rausekeln. Sie provozieren während den Gesprächen, nur um die Gegenseite wütend zu machen. Dann können sie die Polizei rufen und einen Grund finden, die Person abzuschieben. Deshalb bleibe ich vor den Beamten immer gelassen.“ Nissrin ist eine entschlossene Kämpferin, die ihre und die Lage vieler Flüchtlinge in Bayern verbessern möchte: „Ich habe oft in Bayreuth zu hören bekommen, alle Bewohner des Asylheims wären Kriminelle. Aber wenn sie dann meine Geschichte hören, sind sie entsetzt.“ Die 19-Jährige möchte wie alle anderen Bürger eine Ausbildung machen. Aus diesem Grund ist sie in Organisationen wie „Jugendliche ohne Grenzen“ und „Karawane“ eingetreten. „Viele Flüchtlinge trauen sich nicht vor den Medien zu sprechen. Ich habe aber keine Angst. Ich will nicht mehr so leben. Ich muss kämpfen“, sagt Nissrin entschlossen. Seit drei Jahren habe die Familie kein Geld mehr erhalten – einen Grund dafür erfuhr sie nie. Lebensmittel würden als Essenspakete zweimal die Woche geliefert. Bei Krankheiten könnten sie unter bestimmten Bedingungen nicht zu einem Arzt gehen. Nach Angaben von Pro Asyl werden bei nicht „akuten Erkrankungen“ oft Medikamente und Versorgung verweigert.

„Seit 2008 organisiere ich in Bayreuth Demonstrationen, um so eine Verbesserung zu erreichen. Die Heime sind überfüllt und laut. Die Kinder können sich nicht konzentrieren“, sagt sie. Außerdem habe Nissrin den Oberbürgermeister Dr. Michael Hohl zweimal um ein Gespräch gebeten. Er habe jedoch abgesagt.

"Wir leben in den Heimen, ohne zu wissen, warum." (Nissrin Ali)

Mit Freude berichtet Nissrin über die Einladung von Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat: „Er hat mich darum gebeten als Expertin vor dem Landtag in Bayern eine Rede zu halten.“ Am 23. April 2009 war das erste Treffen. 30 Experten und acht Politiker waren anwesend. Mit dabei zwei Flüchtlinge: Nissrin Ali und Felleke Bahiru Kum. Ziel war die Abschaffung der Lagerhaltung in Bayern – was bisher nicht gelang. Pro Asyl ist bei dem Treffen auf Nissrin aufmerksam geworden. „Wir haben Nissrin für den Menschenrechtspreis ausgewählt, weil sie sich als Flüchtling selbst für Flüchtlingsrechte einsetzt“, erklärt Bernd Mesovic, der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl.

Ein paar Zeilen aus ihrer Rede vor dem Landtag hat Nissrin noch in Erinnerung: „Wir leben in den Heimen, ohne zu wissen warum. Die Jugendlichen sind die Zukunft und unser Schicksal liegt in euren Händen.“ Nissrin Ali ist heute Delegierte von Netzwerk Deutschland Lagerland. Und somit eine Sprecherin für alle Flüchtlinge in Bayern.

„Ich hatte nie das Gefühl, dass ich etwas gemacht hätte, weil sich noch nicht viel geändert hat“, berichtet die junge Kurdin in einem festen Ton. Dennoch sei sie stolz auf sich, mit 19 Jahren einen so wichtigen Preis zu erhalten. Nissrin Ali verdeutlicht, dass sie nicht aufgeben wird: „Ich möchte leben und Rechte haben. Man lebt hier nicht, sondern stirbt langsam im Asylbewerberheim. Ich kenne meine Zukunft nicht. Ich habe keine Angst und werde immer in der Öffentlichkeit sprechen.“

Asli Özarslan

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