Süddeutsche Zeitung, 05.05.2010
Josephs Angst
Flüchtlinge in München
Joseph Guima ist einer von 40 Flüchtlingen, die im Heim für "unbegleitete minderjährige Jugendliche" leben. Ihm stehen zwei Quadratmeter Privatsphäre zur Verfügung - für Hoffnung ist da kaum Platz.
12.17 Uhr: Der Sozialarbeiter Klaus Kickermann hetzt durch ein fensterloses Labyrinth aus Türen und Gängen. Vorbei am Waschraum: Es stinkt nach Kloreiniger und Urin. Vorbei an der Küche: Es stinkt nach verbranntem Fett. Zimmer 212: Kickermann klopft dreimal an die Tür, greift zur Klinke, tritt ein. Süßsaure Luft strömt ihm entgegen.
Grüner Schimmel hat sich den Raum zwischen Heizung und Fenster erobert. Vor ihm stehen drei Hochbetten, drei Kühlschränke und drei Spinde. Kickermann öffnet einen der Kühlschränke, sieht vergammelte Knoblauchzehen und grüngesprenkelte Gulaschsuppe. Die sechs Afghanen, die hier wohnen, sind nicht da. "Hier müssen wir 'ne Grundreinigung machen", sagt er auf dem Weg zum Flur.
Zimmer 225: Kickermann klopft dreimal an die Tür, greift zur Klinke, tritt ein. Vor ihm stehen sechs Somalier. Es riecht nach billigem Deo. Klebrige Staubklumpen bedecken den roten PVC-Boden. Aber der Kühlschrank ist in Ordnung.
"This is okay", sagt Kickermann und hetzt weiter. Vorbei am heulenden Jungen, der zusammengekauert am Boden sitzt. Keiner weiß, was der hat. Zimmer 226, Zimmer 228, Zimmer 210: Kickermann klopft dreimal an die Tür, greift zur Klinke, tritt ein.
Der 48 Jahre alte Mann trägt Jeans und ein rot-grau-kariertes Hemd. Seine Haare hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden, seinen silberblauen Augen entgeht nichts. Einmal in der Woche macht Kickermann seinen Kontrollgang durch die Zimmer des Asylheims UMF. Das Kürzel steht für "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge".
In der Unterkunft an Münchens Baierbrunner Straße leben nur 16 und 17 Jahre alte Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland gekommen sind. Kickermann war schon dabei, als das Heim 2006 gegründet wurde. Damals hoffte er noch, dass die bayerische Landesregierung die jungen Flüchtlinge in der Unterkunft vor den Zuständen schützen wollte, die sie in Asylheimen für Erwachsene bis heute hinnimmt.
Der Schimmel in der Gemeinschaftsküche ist im Gegensatz zu dem in den meisten Zimmern orange und nicht grün. Unzählige Bratfettspritzer haben wirre Farbmuster auf den Putz über der Arbeitsplatte gezaubert. Ob Schimmel oder Fett - Joseph Guima muss seine Spaghetti in dieser Küche kochen. Es gibt nur die eine. Vier Herdplatten für vierzig Flüchtlinge.
Joseph ist Bootsflüchtling. Der kleine, stämmige Kerl mit der breiten Narbe im weichen Gesicht ist vor drei Monaten aus Burkina Faso gekommen. Er trägt ein schwarz-gelb gestreiftes Fußballtrikot und braune Schlappen. Joseph hat die Mittagszeit abgewartet, nur am frühen Nachmittag kann er seine Pasta in Ruhe kochen.
Immer wieder kostet er die Soße. "I like cooking", sagt er. "Beim Kochen bin ich beschäftigt." Auf die Frage, ob er sein Hobby mal zum Beruf machen möchte, antwortet er nicht mit Worten. Er lacht mit dem ganzen Körper: ja. Nur die Augen lachen nicht mit.
Joseph geht zum Essen auf sein Zimmer. 16 Quadratmeter, ein paar Hochbetten, ein paar Kühlschränke, ein paar Spinde. Und doch zählt Joseph zu den Glücklichen: Derzeit muss er sich das Zimmer nur mit einem Nigerianer und einem Kongolesen teilen. In vielen Zimmern leben die Jugendlichen zu sechst. Außerdem darf Joseph unten im Hochbett schlafen. Er hat ein Laken am oberen Bettkasten befestigt, das seinen Schlafplatz verdeckt.
"Zwei Quadratmeter Privatsphäre - immerhin." Joseph schiebt den Vorhang beiseite und greift nach seinem deutsch-französischen Wörterbuch. Pauken sei alles, was er hier tun könne. "Ich bin allein hier. Es gibt keine anderen Burkiner." Auch andere Bücher, die er lesen könnte, gibt es nicht. Joseph spricht nur Französisch und Moore, die vorherrschenden Sprachen in Burkina Faso.
Seine Deutsch- und Englischkenntnisse sind so schlecht, dass selbst das Gespräch mit seinen Mitbewohnern kaum möglich ist. Als Asylsuchender darf Joseph nicht arbeiten - und in den Schulklassen für Flüchtlinge hat er noch keinen Platz. Was Joseph hat, ist viel Zeit für seine Gedanken.
12.30 Uhr: Sozialarbeiter Klaus Kickermann kehrt von seinem Kontrollgang zurück. An einer Pinnwand in seinem Büro hängen die unscharfen Bilder der Jugendlichen. In einer Ecke liegt ein Haufen Schuhkartons: eine Spende für den Flüchtlingskindergarten. "Die meisten sind Größe 41 oder 42. Das passt natürlich nicht. Wir verteilen sie trotzdem an die Jugendlichen." Kickermann setzt sich an seinen Schreibtisch und startet den Computer. 12.31 Uhr: Es knackt, das Licht geht aus, der Monitor erlischt.
Die Sicherung ist mal wieder rausgeknallt. "Die ganze Einrichtung ist nur für 20 Jugendliche ausgelegt. Auch das Stromnetz." Vergeblich versucht Kickermann den Hausmeister anzurufen. Er ist in der Mittagspause. 12.35 Uhr: Abullahi Hassan kommt ins Zimmer. "It's chilly in my room", sagt der Somalier. Dem Jungen ist kalt. Kickermann reißt einen Pappkarton auf und greift nach einem schwarzen Daunenmantel. Irgendwoher zaubert er auch eine rosa Pudelmütze. Der Somalier schlüpft in die Jacke.
Sie ist eng tailliert und hat einen abstehenden Kragen. "Die ist für Mädchen", murrt er in gebrochenem Englisch. "Na gut, Ok." Abullahi guckt immer wieder an sich herunter, während er auf den Flur tappt. Von dort schallt gällendes Gelächter. Abullahi steht wieder in der Tür. "Die ist doch für Mädchen." Kurz darauf schlendert der Hausmeister ins Zimmer: "Soll ich die Sicherungen wieder reinmachen?"
Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als würden Kickermanns Augen aufhören zu leuchten, als würden sie all ihre Spannung verlieren. "Hier geht soviel unter. Wir brauchen mindestens zwei Vollzeitstellen mehr." Der Dreck, der Gestank - viele der Jugendlichen seien völlig überfordert. "Die meisten sind durch die Flucht oder die Trennung von ihren Eltern traumatisiert."
Wenn sie dann noch in ein überfülltes Zimmer mit völlig Fremden gestopft würden, sei an Ordnung kaum zu denken. "Die brauchen 'ne richtige Betreuung." Der Sozialarbeiter senkt seinen Blick und schüttelt den Kopf: "Für die Landesregierung Bayerns is' das hier ne' große Sparmaßnahme." Würde es das Asylheim UMF nicht geben, müssten die Flüchtlinge in Einrichtungen der Jugendhilfe verlegt werden, so wie deutsche Kinder auch.
Da komme ein Betreuer auf zwei Bewohner statt einer auf fünfzehn. Jetzt würden viele jugendliche Flüchtlinge "hier monatelang geparkt", bevor die Regierung sie abschiebt oder ihnen irgendwann einen Jugendhilfeplatz zuteilt. "Das Kind ist hier kein Kind, es ist erst mal Ausländer."
Zug um Zug schabt Joseph den Rasierschaum von seinen Wangen. Joseph hat sich dafür mindestens soviel Zeit genommen wie fürs Spaghetti-Kochen. Die Sohlen seiner braunen Schlappen sind nass, ein Film aus Abwasser bedeckt die Kacheln des Waschraums, eine Klopapierrolle und mehrere Wasserflaschen schwimmen darin.
Die 40 Bewohner des UMF müssen sich drei Toiletten, zwei Duschen und einen Spiegel teilen. Auf einer der Klobrillen klebt Kot. Die Jungen leiden oft unter Durchfall. Es fällt ihnen schwer, sich an die deutsche Küche zu gewöhnen. "I don't like nothing here", sagt Joseph, "except for Klaus and the others." Abgesehen von Klaus und den anderen Angestellten mag Joseph gar nichts an dem Heim. "Ich muss Angst vor meiner Zukunft haben", sagt er. "Ich weiß nicht, was mich morgen erwartet."
Joseph denkt oft darüber nach, was mal aus ihm werden soll. Wenn man ehrlich sei, könne man hier nicht leben. "Aber es ist besser hier als in Burkina Faso." Dann verliert sich sein Blick. "Meine Eltern sind tot. Da ist nichts, was ich an Burkina Faso vermissen könnte."
17:45 Uhr: Kickermann schließt seine Bürotür. Er hetzt wieder durch das fensterlose Labyrinth aus Türen und Gängen. Zum Treppenhaus: Hier mischt sich der Gestank des Kloreinigers mit Urin und Bratfett. Auf dem Treppenabsatz klebt das Blut der letzten Schlägerei. Kickermann nimmt eine Kippe aus seiner Brusttasche. Vorbei an der Sicherheitsschleuse: Der Wärter schaut misstrauisch wie immer. Raus hier.
Die Kinderrechtskonventionen der Vereinten Nationen (UN) schreiben vor, dass Kinder das Recht unter anderem auf Privatsphäre, Bildung und medizinische Versorgung haben. Auf Druck der Bundesländer hat die damalige Bundesregierung 1992 eine Vorbehaltserklärung abgegeben, derzufolge minderjährige Flüchtlinge nicht in allen Punkten die selben Rechte bekommen wie deutsche Kinder. Erst am vergangenen Montag, 18 Jahre später, hat die Bundesregierung diese Vorbehaltserklärung aufgehoben.
Issio Ehrich
Quelle: Süddeutsche Zeitung