Süddeutsche Zeitung, 24.02.2011
71 Einwohner, 90 Flüchtlinge
Schöllnstein in Niederbayern
In diesem Ort leben 71 Dorfbewohner. In diesem Ort leben etwa 90 Flüchtlinge. 71 plus 90? 71 gegen 90? Der Pfarrer sagt: "Wir sind völlig überfordert. Die Situation ist wie auf der Insel Lampedusa." Die Dorfeinwohnerin sagt: "Hier geht es nicht mehr darum, ob man für oder gegen Asylbewerber ist. Das Verhältnis stimmt einfach nicht." Der Bürgermeister sagt: "Die Schwarzen grüßen immer recht fleißig. Aber wir verstehen sie nicht." Der Flüchtling aus Somalia sagt: "We go crazy, wir werden verrückt. Hier ist nichts."
Schöllnstein in Niederbayern, zwischen Donau und Bayerischem Wald. Es ist ein schönes Dorf. Unten am Mühlbach schlängelt sich der Ohetal-Radweg entlang. In der Mitte das Kriegerdenkmal, sorgfältig bepflanzt. Oben, über den paar Häusern dieses Ortes, thront ein wahres Schmuckstück, die Barockkirche Maria Heimsuchung der Expositur Schöllnstein. Ein weiter Blick bis zu den Bergen, alle aus dem Dorf haben bei der Renovierung mitgeholfen. Hier würde man gerne einmal Urlaub machen.
Es gibt keinen Bus, keine Schule, kein Arzt, kein Geschäft. Die Straße, die sich durch Hügel und Wald von Iggensbach bis in den Weiler Schöllnstein vorarbeitet, kommt ohne Mittelstreifen aus. So wenige Autos fahren hier entlang.
Alle paar Tage kommt ein Kleinbus, manchmal auch nur ein Taxi, und spuckt dunkelhaarige, oft dunkelhäutige Menschen oben auf dem Berg aus. Dort, wo früher einmal eine Wirtschaft mit Kegelbahn und Ferienwohnungen war und Anfang der neunziger Jahre Spätaussiedler aus dem Osten untergebracht wurden, ist jetzt wieder richtig etwas los. Oder auch nichts - ganz wie man es nimmt. In der Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber bringt die Regierung von Niederbayern seit einigen Monaten Flüchtlinge aus aller Welt unter. Hier oben auf dem Berg müssen sie jetzt irgendwie klarkommen - und die Schöllnsteiner mit ihnen.
Pfarrer Anton Pius Vollath erzählt, dass alle im Dorf völlig überrascht gewesen seien, als die ersten Flüchtlinge in dem Heim, das lange leer stand, ankamen. Das war Anfang Juli, es waren sieben Asylbewerber aus dem Verteillager Zirndorf, die erst einmal vor verschlossenen Türen standen. Die Heimleitung war noch nicht eingetroffen. Die Leute aus dem Dorf versorgten die Asylsuchenden mit Getränken. "Vom christlichen Standpunkt her sagen wir natürlich, wir nehmen euch auf", sagt der Pfarrer. Man installierte einen Fernseher, sammelte Fahrräder, damit die Leute aus fernen Ländern ein bisschen mobil würden.
Ende Juli sollten dann 50 Asylsuchende aus der völlig maroden Unterkunft in Landshut nach Schöllnstein umquartiert werden. Sie weigerten sich. "Bad, bad place, called Bayerischer Wald", diktierte einer den Journalisten in den Block, als der Bus ohne sie abfuhr. In den Heimen hatte sich die isolierte Lage Schöllnsteins also schnell herumgesprochen.
Wenig später wies die Regierung von Niederbayern andere Flüchtlinge ein, erst waren es 20, dann 60, irgendwann 100, momentan sind es etwa 90. "Keiner weiß, wie viele noch kommen, alle im Dorf schauen mit Sorge nach Libyen und Tunesien", sagt Anton Pius Vollath. In dieser Situation der Unsicherheit fragten den Pfarrer manche: Leben bei uns jetzt auch Extremisten? Sind doch alle Moslems dort oben im Heim.
Wird da ein kleines Dorf überrollt? Werden da freundliche Ansätze gegenüber Fremden allein durch den puren Ansturm und politische Planlosigkeit platt gemacht? "Ach, so schlimm ist das auch nicht. Die Flüchtlinge laufen ja nicht alle auf einmal zu hundert durch die Straßen. Die sieht man nicht immer", versucht Alois Zellner vier Kilometer weiter im Rathaus von Iggensbach zu beruhigen. Der CSU-Bürgermeister sitzt in einer dicken Jacke kränkelnd am Schreibtisch und hat eigentlich andere Probleme: die Abwasserproblematik in der Gemeinde. "Wir können Europa nicht davonlaufen", sagt er stattdessen, und: "Das Dorf verträgt den Ansturm, weil die Leute hier geduldig und offen sind." Bislang habe keiner der Flüchtlinge "Rabauz" gemacht.
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Der Schöllnsteiner Volker Pagany sagt: "Die Flüchtlinge sind arme Kerlchen." (© Ulrike Heidenreich )
Manchmal arbeiten ein paar von ihnen im Bauhof mit - einfach, um sich zu beschäftigen. "Denen ist langweilig. Sie erbarmen mich, weil sie hier keine Möglichkeiten haben", sagt der Bürgermeister. Der CSU-Ortsverband hat jetzt ein paar Tische gespendet und eine Tafel. In einem Raum sollen die Flüchtlinge lernen: "Die deutsche Kultur, die Sprache. Sie sollen einen guten Eindruck mit in ihr Heimatland nehmen", sagt Zellner. Schließlich, so habe ihn die Regierung informiert, würde der Großteil sowieso abgeschoben, Integration sei nicht erforderlich.
Eine Betreuung für die Flüchtlinge, die mitunter traumatisierende Erlebnisse hatten, gibt es auch nicht. Der Bürgermeister versucht auch dies positiv zu deuten: "Hier kommen sie zur Ruhe, haben Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen." Ein Deutschlehrer für das Heim hat sich übrigens noch nicht gefunden. Der geflieste Raum ist ungenutzt.
Oben im Asylbewerberheim zur schönen Aussicht sitzen Frau Kraft, die Heimleiterin, und Frau Solcher-Ferrer, zuständig bei der Caritas Deggendorf für Migrationsberatung, und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Die Dame von der Caritas notiert, welches Schulmaterial noch nötig sei. Vergangene Woche nämlich hatte die Flüchtlingsorganisation Karawane München Alarm geschlagen, dass dort noch nicht einmal die gesetzliche vorgeschriebene Schulpflicht gelte, Motto: Die vergessenen Kinder von Schöllnstein.
Diese Woche nun waren fünf Flüchtlingskinder erstmals in der Grundschule Iggensbach, sechs Größere in der Hauptschule Winzer. "Natürlich ist es schwierig für Schüler und Lehrer, schon allein wegen der Sprache", sagt Christine Solcher-Ferrer. Sie will nun dringend einen Runden Tisch organisieren und die Leute aus dem Dorf einladen: "Das einzige, was hilft, ist der Dialog."
Neulich fuhr ein Mann aus dem Heim mit seinem kranken Kind morgens im Schulbus mit zum Arzt, der Gratis-Bus für Flüchtlinge nach Deggendorf kommt nur einmal die Woche. Man beschwerte sich umgehend beim Bürgermeister. "Die Stimmung im Dorf ist unterschiedlich", sagt Volker Pagany, 70, der mit seiner Frau Gerlinde in einem schönen Haus unten am Berg lebt. "Den meisten aber tun die Flüchtlinge leid. Sie sind noch ärmer dran als daheim, weil sie hier in der Wüste leben." Manchmal gibt er den Kindern ein Stück Schokolade und versucht eine Minimalunterhaltung.
Ali, 21 Jahre alt, ist vor neun Monaten aus Somalia nach Deutschland gekommen, sein Asylverfahren läuft. Er hat seine dunklen Locken mit Haushaltsgummis zu Rastazöpfen geflochten, steht vor dem Heim und langweilt sich furchtbar: "Ich kann mit niemandem sprechen, komme nicht weg, es ist wie im Gefängnis." Auch Kaner, 15, der aus dem Kosovo über Serbien mit seiner Familie kam, und nun in die Schule gehen darf, sagt in gebrochenem Deutsch: "Nicht so gut hier." Nur der Palästinenser Taifur, 32, schätzt die Ruhe: "In Landshut hatte ich ein Zimmer mit vier Algeriern, die ständig getrunken haben. Hier habe ich ein Einzelzimmer."
Heinz Grunwald, der Regierungspräsident von Niederbayern, weiß um die Problematik: "Es ist kein guter Zustand, dass dort mehr Asylbewerber als Einheimische wohnen." Er spricht von einer "absoluten Notverwaltung": Die Zahl der Niederbayern zugewiesenen Asylbewerber hat sich in den vergangenen zwei Jahren mit 1100 nämlich nahezu verdoppelt. "Wir müssen jede Unterkunft nehmen, die wir bekommen können." Das einzige was er den Schöllnsteinern in Aussicht stellen kann: Seinen guten Willen, die Unterkunft nicht voll zu belegen. Das wären dann mehr als 100 Menschen.
Ulrike Heidenreich
Quelle: Süddeutsche Zeitung