Süddeutsche Zeitung, 01.04.2006

... und am Ende blecht der Steuerzahler

Eine Demo am Asylbewerberheim bleibt friedlich, die Regierung erstattet wegen einer Formverletzung Anzeige - Protokoll einer Justizposse

Essenspakete für Flüchtlinge: Anlass für eine Protest-Demo, die eine Gerichtsposse nach sich zog. Foto: sru|SZ-Archiv
Es ist 15.25 Uhr. Richterin Judith Engel eröffnet die Sitzung und sagt, sie habe gerade erfahren, dass um Dreiviertel vier der Strom im Hause abgestellt werde, man müsse also fertig sein, ehe der Computer versage und das Licht ausgeht. 20 Minuten noch. Der Staatsanwalt rattert die Anklage herunter:

Michael Gottschalk - 21 Jahre - zwischen 11.15 und 12.28 Uhr - auf dem Gelände der Gemeinschaftsunterkunft - Emma-Ihrer-Straße - obwohl keine Erlaubnis - nicht berechtigt - Strafantrag -in befriedetes Besitztum widerrechtlich eingedrungen - Paragraph 123 - Hausfriedensbruch.

Vergangenes Jahr boykottierten Dutzende Asylbewerber die ihnen aufgezwungenen Essenspakete, ihre Unterstützer riefen im Juni zur Demo auf, etwa 50 Personen kamen. Und das hat nun Folgen. Nicht, weil es zu Krawallen gekommen wäre, sondern weil der Lautsprecherwagen bei Demo-Beginn auf dem Gelände der Unterkunft stand und neben ihm einige Demonstranten, die Demo aber laut Behörden-Bescheid auf der Straße hätte starten müssen. Es geht um ein paar Meter hin oder her, und es werden aktiv: Regierung von Oberbayern als Hausherrin, Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgericht. Es sind jene Behörden, die über permanente Arbeitsüberlastung klagen, über zu wenig Geld und zu wenig Personal.

Einige Wochen später werden sechs Demonstranten angeklagt, darunter der Versammlungsleiter, aber auch „normale“ Teilnehmer wie Michael Gottschalk. Zuständig ist bei der Staatsanwaltschaft die politische Abteilung. Die verfasst eine Anklage, das Gericht lässt die Sache zur Hauptverhandlung zu. Zuvor aber regt Jugendrichterin Engel an, die Anklage zurückzuziehen, die Beweise sind ihr zu dünn. Nein!, entgegnen die Ankläger. Es gehe auch um Gerechtigkeit, denn zwei der Angeschuldigten hätten schon eine Geldauflage bezahlt, und gegen andere stehe der Prozess bevor.

Michael Gottschalk, Alten- und Krankenpfleger von Beruf, verteidigt von Angelika Lex, erzählt, wie er aufs Grundstück der Unterkunft gegangen sei, weil da alle anderen auch schon waren. Dort habe er Polizisten gesehen, die aber hätten überhaupt nichts unternommen gegen ihre Anwesenheit. „Ich hätte mich auch zehn Meter weiter hinstellen können“, sagt er, „kein Problem.“ Niemand aber habe ihn zum Verlassen des Geländes aufgefordert. Wie also hätte er wissen sollen, dass er dort, wo alle standen, nicht hätte stehen dürfen? Außerdem seien ja alle von den Flüchtlingen eingeladen gewesen.

Dann will der Staatsanwalt was wissen, zum Beispiel, ob der Demo-Zug denn zu Fuß unterwegs gewesen sei, oder ob am Eingang des Geländes ein Schild angebracht sei, auf dem stand: Demonstranten ist der Zutritt verboten. Nein, so ein Schild gebe es nicht. Der Ankläger, ein so genannter Sitzungs-Staatsanwalt, entschuldigt sich für seine Fragen, „ich kenne den Akteninhalt nicht“.

Jetzt wird ein damals diensthabender Kriminaloberkommissar hereingerufen. Er ist Zeuge der Anklage, die Staatsanwalt ist sich sicher, dass der polizeiliche Staatsschützer, dessen Kommissariat unter anderem zuständig ist für Linksextremismus, den Demonstranten der Straftat überführen wird. Doch der Kommissar, 28, bestätigt die Angaben des Angeklagten, und das hatte er auch schon in den Akten niedergelegt. Nein, er und seine Kollegen seien nicht eingeschritten gegen diesen Hausfriedensbruch. Er habe das damals gleich klären wollen bei der Regierung, ob sie was gegen die Demonstration habe, aber „es war kein Mensch erreichbar“. Der Polizist sagt, es sei „nicht auszuschließen“ gewesen, dass die Regierung gar nichts gegen die Versammlung gehabt hatte, „es geht ja nichts kaputt“.

Kürzlich hat die Polizei, auf Anfrage der SZ, noch mitgeteilt, man habe auf ein Einschreiten verzichtet, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Von einer drohenden Eskalation ist nun vor Gericht, wo der Zeuge unter Wahrheitspflicht steht, nicht die Rede. Ein Einschreiten, sagt der Polizist, „stand nicht zur Debatte“. Erst „im Nachgang“ habe die Regierung Strafanzeige gestellt.

Nur, gegen wen? Die Polizei hatte nämlich keine Personalien aufgenommen, die Szenerie aber vorsichtshalber gefilmt. Also wurden nur die Demonstranten angezeigt und später angeklagt, die den Polizisten namentlich bekannt waren, die übrigen drei, vier Dutzend nicht. „Mei, so ist das Leben“, sagt der Zeuge und zuckt mit den Schultern.

15.40 Uhr. Die Richterin drängt zur Eile, gleich gehe das Licht aus, sagt, sie könne kein vorsätzliches Handeln erkennen. Da nickt der Staatsanwalt, ja, er sehe das ähnlich, wischt seine vor 20 Minuten verlesene Anklage vom Tisch, plädiert auf Freispruch. Angelika Lex, Verteidigerin, schließt sich an. Die Richterin auch. Freispruch. „Die Kosten des Verfahrens und die Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse."

Es ist zehn vor Vier. Bei der Justiz sind die Lichter doch noch nicht ausgegangen.

Bernd Kastner

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