Donaukurier, 23.04.2009

"Ich will endlich leben"

Neuburg (DK) Beti will sich integrieren. Sie lernt Deutsch und möchte hier leben. Richtig leben. In den eigenen vier Wänden, vom eigenen, selbst verdienten Geld. All das will die junge Frau aus Äthiopien, die seit zwei Jahren im Flüchtlingslager in Neuburg (Kreis Neuburg-Schrobenhausen) wohnt – und all das darf sie nicht. "Ich kann hier nichts tun, ich verliere meine Zeit", sagt die 30-Jährige und ist den Tränen nah.

Ein Leben in der Fremde

Die Beine übereinandergeschlagen sitzt Beti Baraki Gebregiyorgis auf ihrer Couch, trocknet sich die Augen und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Gleich an der Tür steht eine kleine, fast kümmerliche Küchenzeile – ein alter Elektroherd mit Kochplatte, eine knapp bemessene Arbeitsfläche und ein Küchentisch mit dürren Beinen. Daneben ein Regal mit Fernseher und einigen wenigen persönlichen Gegenständen. In der Mitte des Raums das große grau-blaue Sofa, dahinter ein Kleiderschrank und ein Bett. An der Wand hängt ein großes Holzkreuz, der Glauben gibt ihr Kraft.

Betis kleines Reich fernab der Heimat. 16 Quadratmeter groß und Tausende Kilometer von ihrem Zuhause in Nordostafrika entfernt. Und selbst dieses kleine Stück Privatsphäre muss sich die 30-Jährige teilen. Mit einer fremden Frau, die zwar ebenfalls aus Äthiopien kommt, aber eben doch eine Fremde ist.

Ganz oben auf dem Fernsehregal stehen einige Fotos von Betis Familie. Kontakt zu den Verwandten hat sie längst nicht mehr. "Die haben kein Telefon", sagt sie. Und ihre Briefe kämen nicht durch. "Was soll ich denn machen", fragt sie entmutigt – und ohne eine Antwort zu erwarten. Ein Bild der Verzweiflung. Dass nach ihrer überstürzten Flucht aus Äthiopien kaum mehr Hoffnung besteht, ihre Familie wiederzusehen, daran zweifelt Beti nicht. Das einzige, was ihr von Äthiopien geblieben ist, sind einige wenige Andenken und die Bilder in ihrem Kopf – langsam verblassende Erinnerungen. Nur selten bekommt sie etwas von zu Hause mit. Manchmal von den anderen Bewohnern aus Äthiopien, die sich einmal pro Woche treffen, manchmal im Fernsehen.

Flucht vor der Regierung

Sechs Jahre, ein Fünftel ihres Lebens, verbringt Beti nun schon in Lagern, erst in Rosenheim, dann in Neuburg. Toiletten und Duschen teilt sie sich mit zahlreichen anderen Frauen. "Das finde ich besonders schlimm", sagt sie.

2003 kehrte die damals 24-Jährige ihrer Heimat den Rücken. "Aus Angst", sagt sie leise. Nachdem sie gegen die Regierung demonstrierte, die damals den unsicheren Frieden mit dem Nachbarland Eritrea gefährdete, musste sie ihr bisheriges Leben und ihren Beruf als Sekretärin aufgeben. Ein Fluchthelfer organisierte die Reise nach Deutschland und riet der jungen Frau, ihren Reisepass gleich nach der Ankunft wegzuwerfen. Beti, allein und ängstlich, befolgte den Rat. Und beging ihren vielleicht größten Fehler. "Ich dachte, der will mir helfen", sagt sie heute. Und wieder schießen ihr die Tränen in die Augen.

Der Pass, den sie damals eigenhändig in den Müll warf, fehlt ihr nun für ein normales Leben. Denn ohne bekommt sie keine Arbeitserlaubnis. Das äthiopische Konsulat stellt ihr keinen neuen aus – seit sechs Jahren. "Weil ich Halb-Eritreerin bin", vermutet sie. Dabei wäre ihr nichts lieber als arbeiten. "Egal was", erklärt sie offen – Hauptsache Arbeit. "Ich will mein Essen selbst kaufen und nicht mehr abhängig sein." Solange das mit der Erlaubnis nicht klappt, muss Beti ihren Alltag weiterhin wie bisher verbringen: spazieren- oder in die Kirche gehen, kochen, backen, lesen, fernsehen. Tag für Tag.

Im Regal reihen sich Bücher aneinander – auf Englisch und Amharisch, ihrer Muttersprache. "Ich lese sehr viel, auch auf Deutsch", sagt Beti und deutet auf einige alte Zeitschriften auf dem Couchtisch. "Um zu lernen." Denn: "Wenn ich hier lebe, will ich auch die deutsche Kultur annehmen", sagt sie. Und wieder kommt die Erinnerung an ihr Dilemma hoch. "Ich bin jung und will mein Leben endlich leben." Ohne fremde Hilfe. Und nicht in einem Lager.

Von Stefan Janda

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