Mittelbayerische Zeitung, 24.10.2012

Heuchlerische Debatte

Das Mahnmal für die Sinti und Roma erinnert an den Völkermord. Über täglichen Rassismus redet keiner


Könnte man heute eine Rede zum Völkermord an den Juden halten und morgen nach Moskau fliegen, um den russischen Präsidenten davon zu überzeugen, dass er keine russischen Juden nach Deutschland reisen lässt? Nein, das könnte man glücklicherweise nicht.

Man kann aber heute ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma einweihen und morgen zu einem EU-Gipfel reisen und dort - wegen der vielen von dort kommenden Roma - den Beitrittskandidaten Serbien und Mazedonien mit der Wiedereinführung der Visumpflicht drohen. Sind Roma Opfer zweiter Klasse? Fühlen wir uns ihnen nicht verpflichtet? Wollen wir aus dem Völkermord an ihnen keine Lehren ziehen?

Wir haben aus der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der deutschen Sinti und der osteuropäischen Roma tatsächlich nicht die richtigen Lehren gezogen. Das gilt aber nicht nur für die "pragmatische" (und zunehmend erweiterungsskeptische) Bundesregierung, sondern auch für reuige Öffentlichkeit.

Die Sinti und Roma wurden unter den Nazis aus zwei Gründen verfolgt: aus rassischen und aus sogenannten "ordnungspolitischen". Zum einen waren sie Opfer der Vorstellungen von "Rassereinheit" und genetisch höher- und minderwertigen Völkern. Zum anderen hatten die Nazis aber auch die strengen, oft zwanghaften Ordnungsvorstellungen der Kaiserzeit geerbt und radikalisiert. Die "Landfahrerverordnungen", Polizeischikanen und Ausweisungsbeschlüsse des 19. Jahrhunderts richteten sich nicht speziell gegen "Fremdvölkische", sondern allgemein gegen Arme. Arme sammeln Schrott, ziehen mangels Bleibe umher, betteln, bauen sich Hütten ohne eine Baugenehmigung; das alles durfte - und darf - nicht sein.

Die rassische Diskriminierung ist heute verpönt, aber der Affekt gegen die Armen steht in voller Blüte. Wenn 60 Prozent der Deutschen keine Roma als Nachbarn haben wollen, so hoffentlich nicht deshalb, weil die Deutschen so rassistisch wären. Unsere Städte sind bunt geworden, und wegen seines dunkleren Teints fällt man nicht mehr besonders auf. Man will aber nicht mit einer Familie auf der Etage wohnen, die von den Verhältnissen zu zehnt in eine Dreizimmerwohnung gezwungen ist und sich den Lebensunterhalt mit Müllsammeln verdienen muss.

Für das soziale Problem und für die Schwierigkeiten eines solchen Zusammenlebens hat niemand eine Lösung. An dieser Stelle kommt der verpönte Rassismus durch die Hintertür wieder herein. Mit dem Phänomen Armut wollen wir uns nicht auseinandersetzen. Die einen finden es bequem, die Armut mit den "kulturellen" Eigenschaften der Roma zu erklären; wenn in jüngster Zeit den Roma von wahnwitzigen Forschern und populistischen Autoren mindere Intelligenz zugesprochen wird, darf man mit Fug und Recht auch wieder von Rassismus sprechen. Die anderen prangern die mangelnde Toleranz der Mehrheit an.

Wenn aber die Armut das größte Problem der südosteuropäischen Roma ist, die in unsere Städte kommen, dann ist nicht Toleranz gefragt. Armut gehört bekämpft, nicht toleriert. Man bekämpft sie auch nicht, indem man die Armen bekämpft, wie es deutsche Regierungen bis in die 1960er Jahre getan haben und wie es jetzt wieder Mode wird. Das "ordnungswidrige" Verhalten der Opfer ist bei näherem Hinsehen nicht Ausfluss einer besonderen Kultur, sondern bloß Überlebensstrategie; niemand bettelt aus Berufung.

Damit Menschen nicht zur Entwicklung solcher Strategien gezwungen sind, muss man ihre Grundbedürfnisse erfüllen. Jeder in der EU, ob Roma oder nicht, soll genug zu essen haben. Jeder braucht in unseren Breiten ein Dach und eine heizbare Wohnung, und jeder muss sich die Busfahrkarte leisten können, um sein Kind zur weiterführenden Schule zu schicken.

Wenn es um Roma geht, wird in ganz Europa tüchtig geheuchelt. Die westeuropäischen Innenminister tun so, als wollten sie den Betroffenen helfen und mahnen die Osteuropäer ständig, sie sollten ihr "Roma-Problem" lösen und die Menschen nicht länger diskriminieren. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass hier nicht ein ominöses "Roma-Problem" zu lösen ist, sondern eine Herkulesaufgabe wartet: Seit 1990 sind ganze Landstriche verödet, Millionen Menschen, so gut wie alle Roma, aber auch viele andere, in eine sich verstetigende Armut gerutscht. Als Problem wird diese Armut nur empfunden, wenn sie sich zeigt. Wer aber von der Armut nicht sprechen will, soll zum Völkermord, zum Rassismus der Nazis und von seiner Scham der Nachgeborenen lieber schweigen.

Norbert Mappes-Niediek

Quelle: finanznachrichten.de

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