Süddeutsche Zeitung, 14.11.2003

Gratwanderung aus bester Absicht

Flüchtlingsrat-Chef fordert per Flugblatt zu einer Straftat auf: Verfahren wegen geringer Schuld gestellt

Süddeutsche Zeitung: Matthias Weinzierl macht nicht lange rum - natürlich hat er das Flugblatt gestaltet. Natürlich sind sie zum Flughafen gefahren am 19. Dezember 2002, und natürlich haben sie die Blätter verteilt an die Passagiere des KLM-Fluges von München über Amsterdam nach Lomé in Togo: Ein Passagier sollte gegen seinen Willen an Bord des Fliegers gebracht werden, der Togoer Koumai Agoroh - die Behörden wollten ihn abschieben, und das wollte Matthias Weinzierl verhindern. Von Berufs wegen sozusagen: Denn Weinzierl ist einer der Geschäftsführer des Bayerischen Flüchtlingsrats. Ob er sich bei der Aktion einer Straftat schuldig gemacht hat, das hatte gestern das Amtsgericht zu klären.

"Öffentliche Aufforderung zu einer Straftat" warf die Staatsanwaltschaft Weinzierl vor. Denn in dem Flugblatt lasen die Passagiere Hinweise, wie sie den Start der Maschine verhindern könnten: Sie könnten sich weigern, ihre Plätze einzunehmen. Sie könnten die Piloten in ein Gespräch verwickeln. Oder: Sie könnten ankündigen, ihre Handys nicht auszuschalten. Und an genau diesem Punkt hakte die Staatsanwaltschaft ein.

Denn es ist nicht nur nicht erlaubt, an Bord eines Flugzeugs ein Handy zu betreiben - es ist eine Straftat, im Luftverkehrsgesetz mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren belegt. Ist also der Hinweis, das Flugzeug könne nicht starten, wenn die Handys eingeschaltet blieben, schon die Aufforderung, eine strafbare Handlung zu begehen? Darüber streiten sich im Gericht zunächst Verteidigerin und Staatsanwältin. Matthias Weinzierl sagt, er habe nicht gewusst, dass dieser eine Satz strafbar sein könnte: "Sonst hätten wir’s rausgelassen." Dann berichtet er noch, dass vier Monate nach der Aktion seine Wohnung und die Geschäftsstelle des Flüchtlingsrates durchsucht worden seien - angeblich, um festzustellen, ob er auch wirklich der Urheber des Flugblattes gewesen sei. Das findet er heute noch absurd, denn klar und deutlich stand sein Name auf den Zetteln als presserechtlich Verantwortlicher. "Ich hatte den Eindruck, man wollte mir Angst machen und mich in eine kriminelle Ecke stellen."

Amtsrichterin Elisabeth Ziegler sagt, sie gestehe dem Angeklagten ja zu, dass er beste Absichten gehabt habe - "aber Ihre Absichten stehen hier nicht zur Debatte". Das ist der Moment, an dem Rechtsanwältin Nicole Hinz das Wort "Verfahrenseinstellung" fallen lässt. Es wird noch ein bisschen hin und her gefeilscht, aber schließlich einvernehmlich beschlossen: Das Verfahren wird wegen geringer Schuld eingestellt, Weinzierl muss 250 Euro zahlen, was er gerne tut, weil die Richterin das Geld einer Münchner Flüchtlingsorganisation zuschlägt.

Die Sache mit Koumai Agoroh, dem togoischen Flüchtling ging übrigens gut aus: Als der Sicherheitsdienst der Fluglinie hörte, wer da an Bord gebracht werden sollte, bestand er auf eine Begleitung für den Passagier. Das konnte der Bundesgrenzschutz so schnell nicht organisieren, Koumai Agoroh blieb hier und konnte später als freier Mann und aus eigenem Willen nach Ghana ausreisen.

Von Stephan Handel

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