Süddeutsche Zeitung, 24.04.2009

"Gemeinschaftsunterkünfte machen krank"

Bayerische Flüchtlingspolitik gerät bei Expertenanhörung im Landtag massiv in die Kritik / Sozialministerium lobt den Zustand der Heime

Drangvolle Enge, verschimmeltes Essen, sexuelle Übergriffe - Experten und Bewohner haben den bayerischen Flüchtlingsunterkünften teils katastrophale Zustände bescheinigt. Nach einer Anhörung zur Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Landtag forderten am Donnerstag Vertreter aller Parteien Verbesserungen bei der Unterbringung von Asylbewerbern. Die Opposition will Gemeinschaftsunterkünfte möglichst ganz abschaffen, die Grünen kündigten bereits einen Gesetzentwurf an. "Das bayerische Asylbewerberleistungsgesetz und seine restriktive Anwendung bewirken, dass die Flüchtlinge kein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben führen können", sagte Prälat Hans Lindenberger von der Caritas. Kritisiert wurden viele Einzelheiten.

Unterbringung
Knapp 7500 Menschen leben nach Angaben des Sozialministeriums in den 117 bayerischen Gemeinschaftsunterkünften. Vier Personen auf 13 Quadratmetern seien dabei die Regel, gibt der Caritasverband München an. Küche und Bad werden von mehreren Personen gemeinsam benutzt. Persönliche Rückzugsräume gibt es nicht, ebenso wenig getrennte Häuser für Männer und Frauen. Als "Lager" bezeichnet der Bayerische Flüchtlingsrat Behausungen wie in Würzburg, wo in einer alten Kaserne Platz für 500 Menschen sein soll, umrahmt von einem mit Nato-Stacheldraht gekrönten Zaun. Zwar werden bis 2010 die umstrittenen Containerbehausungen, wie sie vor allem in München stehen, geschlossen, die anderen Sammelunterkünfte seien jedoch "auf dauerhafte Nutzung" ausgelegt und befinden sich nach Ansicht des Sozialministeriums "in gutem bis befriedigendem Zustand".

Mit dieser Meinung stand der Ministerialbeamte in der Anhörung allerdings recht alleine da. "Gemeinschaftsunterkünfte machen krank, die Menschen nehmen psychisch und körperlich Schaden", sagte der Würzburger Mediziner August Stich. "Es kommen frische Menschen voller Elan und Tatendrang bei uns an, und nach einigen Jahren der Unterbringung in Bayern haben wir zerbrochene und kaputte Menschen", sagte der Rechtsanwalt Hubert Heinhold. Er kritisierte, dass den Menschen in den Unterkünften jede Selbständigkeit genommen werde. Drei Jahre leben die Flüchtlinge durchschnittlich in den Gemeinschaftsunterkünften, die höchste Verweildauer betrug 18 Jahre. 230 Euro pro Monat kostet den Freistaat die Unterbringung eines Asylbewerbers in einer Gemeinschaftsunterkunft.

Residenzpflicht
Flüchtlinge, deren Asylverfahren läuft, dürfen den Landkreis, in dem sie leben, nicht verlassen. Ausgenommen, die Ausländerbehörde genehmigt eine Ausnahme. Verstöße werden bestraft. "Für mich bedeutet die Residenzpflicht ein bereits gefälltes Urteil zum Leben in einer offenen Vollzugsanstalt, wie unglückliche Tiere im Käfig", sagte der äthiopische Flüchtling Felleke Bahiru Kum. Er dürfe nicht einmal einen Gottesdienst im Nachbarort, der schon zum nächsten Landkreis gehöre, besuchen. Begründet wird die Residenzpflicht damit, dass der Asylbewerber erreichbar sein müsse. Felleke Bahiru Kum aber glaubt, dass gerade die Residenzpflicht die Menschen in die Illegalität treibt. Viele würden lieber bei Freunden untertauchen, als tagein, tagaus im Lager zu hocken. Zumal sie weder arbeiten noch eine Ausbildung machen dürfen.

Verpflegung
Wer in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, der geht nicht einfach im Supermarkt einkaufen. Die Menschen bekommen ihre Lebensmittel in Essenspaketen, und wenn die zweimal pro Woche ausgegeben werden, dann müssen sie persönlich abgeholt werden. Auf einer Liste können die Bewohner der Heime auswählen, was sie in nächster Zeit essen möchten. Betroffene erzählten trotzdem, dass sie verschimmeltes Brot und verfaultes Gemüse zu essen bekommen hätten. Auf religiöse und kulturelle Bedürfnisse werde keine Rücksicht genommen. Der Vertreter des Sozialministeriums dagegen beteuert, dass mit dem System gute Erfahrungen gemacht worden seien. 100 Euro pro Monat koste die Verpflegung eines Flüchtlings. Alexander Thal vom Flüchtlingsrat kritisierte vor allem die Bürokratie bei der Essenausgabe. So werte eine baden-württembergische Firma zweimal wöchentlich die Bestellzettel der Flüchtlinge aus, um dann für alle 7500 Lagerbewohner Pakete zusammenzustellen, die dann wiederum in ganz Bayern verteilt würden. Diese immensen Logistikkosten bezahlten die Steuerzahler. Geht es nach den Flüchtlingen, würden sie am liebsten nur Geld bekommen, um sich selbst ihre Lebensmittel kaufen zu können.

Ausstattung
Ein paar Schuhe in seiner Größe hat Felleke Bahiru Kum nicht gefunden, als im Pfarrsaal wieder einmal gebrauchte Klamotten verteilt wurden. Er musste halt größere nehmen, sonst hätte er gar keine bekommen. Verteilt wird, was da ist, der Bedarf spielt nach den Erzählungen vieler Experten keine große Rolle. Alexander Thal berichtet, dass an die Männer drei Packungen mit je fünf Einwegrasierern verteilt würden, die drei Monate reichen müssen. Auch ganz persönliche Entscheidungen trifft die Behörde: So bekommen Flüchtlingsfrauen Hygienebinden. Wer Tampons benutzen möchte, der müsste sie selbst anschaffen. Doch für die meisten ist es unmöglich, sich Sonderwünsche zu erfüllen. 40 Euro Taschengeld erhalten die Flüchtlinge im Monat.

Gesundheit
Viele Flüchtlinge sind traumatisiert, wenn sie in Deutschland ankommen. Anni Kammerlander von Refugio, dem Beratungszentrum für Flüchtlinge in München, beklagte, dass das oft zu spät erkannt und nicht behandelt werde. Die Flüchtlinge würden bei ihrer Ankunft meist nur kurz und ohne Dolmetscher untersucht und danach auf die verschiedenen Unterkünfte verteilt. Viele Traumata blieben lange Zeit unentdeckt und verstärkten sich in den Gemeinschaftsunterkünften sogar noch. Die ärztliche Betreuung wurde allgemein kritisiert, schon weil es eine bürokratische Hürde für die Flüchtlinge sei, sich überhaupt einen Krankenschein zu besorgen.

Gegenbeispiel Leverkusen
Dass es Alternativlösungen zu den Gemeinschaftsunterkünften gibt, legte Frank Stein von der Stadt Leverkusen dar. Dort beschloss der Stadtrat 2002, die Flüchtlinge in Privatwohnungen unterzubringen, weil "in einigen Übergangsheimen unvertretbare Wohnverhältnisse und katastrophale sanitäre Zustände herrschten", sagte Stein. Seit die Menschen in Privatwohnungen lebten, spare die Stadt nicht nur Geld, weil die Heime nicht mehr bewirtschaftet werden müssten, sondern auch die Lebenssituation der Flüchtlinge habe sich deutlich verbessert. Die Miete wird von der Stadt direkt an den Vermieter überwiesen. Auch in der Leverkusener Bevölkerung werde diese Unterbringung viel stärker akzeptiert als die zuvor üblichen Übergangsheime.

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