Münchner Merkur, 15.06.2009
Geflohen, verwahrt, vergessen
Jugendliche Asylbewerber
Als Shams nach Deutschland kam, hatte er bescheidene Träume. Er wollte zum ersten Mal in seinem Leben eine Schule besuchen, später vielleicht die Universität. Shams ist 16 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Er ist ein schüchterner Junge, der den Blick auf den Boden richtet, wenn er spricht. Shams lächelt nie.
Zurzeit lebt er in Zimmer 216 der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge an der Baierbrunner Straße - einem Asylbewerberheim. Er teilt sich den 25 Quadratmeter großen Raum mit vier anderen jugendlichen Flüchtlingen. Sie sind ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Im Behördendeutsch heißen sie deshalb nur „umF“ - unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Mindestens 36 männliche Jugendliche im Alter von 16 bis 18Jahren leben derzeit im zweiten Stock des Heims - doppelt so viele wie zugelassen. Sie teilen sich ein Bad und eine sogenannte Küche, die aus vier Herdplatten und einem einfachen Spülbecken besteht.
Die Küche: Vier Platten für 36 Bewohner. Foto: M. Schlaf
„Bei einem Jugendlichen, der nicht dauernd vor unserer Tür steht, der keine laute Klappe hat, kann es vorkommen, dass wir ihn vergessen.“ Elisabeth Ramzews, die für die Innere Mission den Teil des Heims leitet, in dem die Jugendlichen untergebracht sind, ist eine resolute Frau, die nicht versucht, die Situation schönzureden. „Das, was wir hier betreiben, geht eindeutig zu Lasten aller: der Jugendlichen und meiner Mitarbeiter.“ Ramzews ist neben Shams die Einzige, die an diesem Tag klare Worte für den Zustand des Heims findet. Seit zwei Jahren sei es konstant überbelegt, mit steigender Tendenz. „In dieser Personalstärke und mit diesem Raumangebot sind wir der Aufgabe nicht gewachsen.“
Auch eine Beamtin der Regierung von Oberbayern, der Aufsichtsbehörde des Heims, ist an die Baierbrunner Straße gekommen. Wenn die Beamtin über Jugendliche wie Shams spricht, erzählt sie vom „Abflussproblem“. Dabei geht es nicht etwa um die Kanalisation. Gemeint sind Menschen, die einfach nicht „abfließen“ wollen. Die Beamtin will ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Nach dem Besuch im Heim ahnt man, warum.
„Ich fühle mich hier gar nicht gut“, sagt Shams und blickt unter die Tischplatte auf seine Schuhe. Er spricht nur Paschtun, eine Dolmetscherin übersetzt. „Das Haus ist schmutzig, es stinkt, die Leute schreien und streiten.“ Nachts schlafe er kaum, weil Bewohner brüllend durchs Haus laufen. „So habe ich mir Deutschland nicht vorgestellt.“
25 Quadratmeter für fünf Jugendliche: Shams lebt in Zimmer 216 des Asylbewerberheims an der Baierbrunner Straße. MS
Tatsächlich: Wenn man die graue Tür öffnet, die den Flur der männlichen Jugendlichen vom Rest des Asylbewerberheims trennt, schwappt sofort eine Welle beißenden Gestanks heraus. Es riecht nach Fäkalien. Die ehemals weißen Wände sind dreckig, der Versuch, mit ein paar Sprüchen den Flur zu verschönern, sieht wie die Schmiererei auf einer Schulklotür aus.
Der Geruch entstehe, weil die beiden Türen, die den Jugendtrakt von dem der Erwachsenen trennen, stets verschlossen sein müssen, sagt die Beamtin. Eine gesetzliche Vorgabe zum Schutz der Jugendlichen, das könne man nicht ändern. Außerdem seien die Jugendlichen selbst dafür verantwortlich, ihre Räume sauber zu halten. „Schmutz und Lärm sind sehr verhaltensbedingt“, sagt die Beamtin, „wir erwarten auch von den Herren der Schöpfung, dass sie putzen.“ Übersetzt heißt das: Wer hier im Dreck lebt, ist selber schuld. Stimmt das? Im Heim an der Baierbrunner Straße sollten eigentlich nicht mehr als 22 jugendliche Flüchtlinge leben - 18 Jungs und vier Mädchen. Wie viele es an diesem Tag tatsächlich sind, bleibt unklar. Zwar hatte die Regierungsbeamtin gleich zu Beginn des Besuchs eingeräumt, dass im Heim zurzeit leider doppelt so viele Jugendliche leben. Als Betreuerin Ramzews diese Zahl allerdings hört, fragt sie überrascht: „Und was ist seit gestern mit den anderen zehn passiert?“ Ihr aktueller Stand sei 54. Hektisch blättert die Regierungsbeamtin in ihren Listen. Doch, es seien eindeutig 44. Die beiden Frauen werden sich nicht einig. Am nächsten Tag schickt die Beamtin eine E-Mail. Man habe die „Belegungszahlen umF“ noch einmal mit der Inneren Mission abgeglichen und sei sich nun einig: Es gebe „insgesamt 46 umF.“ Es ist die dritte Zahl.
Wie lange Shams schon in Zimmer 216 lebt, weiß er nicht genau. Knapp vier Monate schätzt er. Die Beamtin interveniert: „Laut meiner Liste sind es zweieinhalb.“ Fest steht: Shams sollte längst nicht mehr hier sein. Das Konzept des Sozialministeriums sieht vor, dass die Jugendlichen nur wenige Wochen an der Baierbrunner Straße verbringen bis geklärt ist, ob sie eine Betreuung durch das Jugendamt benötigen. „Clearing“ nennen die Beamten diesen Prozess. Doch weil die Sachbearbeiter völlig überlastet sind, verzögert sich die Beurteilung. Zwei Monate dauert es derzeit, bis sie fast immer zum gleichen Ergebnis kommen: Ein Jugendlicher, der allein in ein fremdes Land kommt, dessen Sprache er nicht spricht, der nicht lesen und schreiben kann, braucht in Deutschland Hilfe.
Doch auch wenn dieses Ergebnis feststeht, müssen die Jugendlichen noch Monate im Asylbewerberheim bleiben. Schuld sei die Stadt, sagt die Beamtin. Das Jugendamt stelle nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfügung- ein „Abflussproblem“. Bis zu fünf Monate würden die Jugendlichen deshalb insgesamt an der Baierbrunner Straße bleiben.
Nachfrage beim Jugendamt. „Wir schaffen ständig neue Plätze“, sagt Leiterin Maria Kurz-Adam. Allein 42 im vergangenen Jahr. Allerdings kämen auch immer mehr jugendliche Flüchtlinge nach Bayern. 2008 waren es laut der Regierung von Oberbayern 190 zwischen 16 und 18 Jahren, 116 davon kamen nach München an die Baierbrunner Straße.
Kurz-Adam glaubt an eine andere Lösung für das Problem: Die Jugendlichen sollten gar nicht erst ins Asylbewerberheim, sondern direkt in eine Jugendhilfeeinrichtung kommen. „Wir gehen davon aus, dass alle einen Jugendhilfebedarf haben“, sagt Kurz-Adam. „Wir sind deshalb nicht glücklich mit dem Clearing-Modell.“ Betreuerin Ramzews geht noch einen Schritt weiter. „Es wäre sinnvoll, ein eigenes Haus für die Jugendlichen zu haben“, sagt sie.
Albert Riedelsheimer, der für das Katholische Jugendsozialwerk die Vormundschaft für Shams übernommen hat, drängt auf eine schnelle Lösung. „Die Jugendlichen gehen auf dem Zahnfleisch“, sagt er. „Das Schlimmste ist die Perspektivlosigkeit.“ Tatsächlich hat Shams sich inzwischen von seinen bescheidenen Träumen verabschiedet. „Ich will einfach nur noch in Sicherheit leben“, sagt er und blickt auf seine Schuhe.
Philipp Vetter