Neues Deutschland, 18.07.2012

Flüchtlingsunrecht mit System

Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes


Das Unrecht währt bereits 19 Jahre: Seit 1993 erhalten Flüchtlinge in Deutschland Sozialbezüge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Diese liegen heute mit rund 220 Euro etwa 40 Prozent unter den Bezügen, die Hartz-IV-Betroffenen zustehen. Bei Kindern ist die Diskrepanz zum Teil noch größer. Eine Diskriminierung von Schutzsuchenden, zumal die Sätze trotz steigender Lebenshaltungskosten seit Einführung des Gesetzes nicht angehoben wurden.

Das Bundesverfassungsgericht hat heute zu entscheiden, ob das Asylbewerberleistungsgesetz gegen das Grundgesetz verstößt. Ein Kurde aus Irak und ein aus Westafrika stammendes elfjähriges Mädchen haben geklagt, weil die Leistungen unzureichend seien und ihr lebensnotwendiger Bedarf nicht nachvollziehbar ermittelt worden sei.

Die Karlsruher Richter stehen vor einem Grundsatzurteil. Sie müssen darüber befinden, wie weit die Benachteiligung von Flüchtlingen gehen darf. Und die Chancen für eine - aus Sicht der Schutzsuchenden - positive Entscheidung stehen nicht schlecht. Denn während der Verhandlung haben die Richter Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Leistungen kundgetan. Es bestehe eine »ins Auge stechende Differenz« zwischen den Hartz-IV-Sätzen und den Bezügen für Asylbewerber, so der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof. Ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Pro Asyl jedenfalls ist »optimistisch«, dass die Leistungen für verfassungswidrig erklärt werden, wie Marei Pelzer, rechtspolitische Referentin der Flüchtlingsorganisation, im Gespräch mit »nd« erklärte. Seit Jahren laufen Interessenvertretungen von Schutzsuchenden gegen das Gesetz Sturm. Sie kritisieren, dass den Betroffenen zu wenig Geld gezahlt wird. Pelzer plädiert deshalb für eine Interimslösung, bei der die Bezüge sofort erhöht werden. Beanstandet wird außerdem, dass in vielen Bundesländern nur Sachleistungen - zum Beispiel in Form von Lebensmittelpaketen - erbracht werden. Betroffene können oft nicht allein entscheiden, was sie essen. Aus Sicht der Kritiker des Gesetzes eine Entmündigung, die ein selbstbestimmtes Leben verhindert.

Die Politik zeigt sich von den Protesten nur wenig beeindruckt. Die Bundesregierung beharrt auf der Position, dass die derzeitigen Regelungen rechtens sind. Ihr Rechtsvertreter, Kay Hailbronner, begründete die kargen Leistungen vor Gericht mit einer kurzen Aufenthaltsdauer der Asylbewerber, die deshalb geringere Ansprüche auf eine soziale und kulturelle Teilhabe hätten als andere Bürger. Ein wenig überzeugendes Argument, denn viele Flüchtlinge verbleiben Jahre in Deutschland, ohne dass endgültig über ihren Aufenthaltstitel entschieden wird. So ist der Kläger aus Irak seit seiner Flucht 2003 nur geduldet. Und auch die Politik kalkuliert mit längeren Aufenthaltszeiten, als Hailbronner bereit ist zuzugeben. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass die Leistungen maximal 48 Monate gezahlt werden?

Was also ist Sinn und Zweck der niedrigen Sätze? Zum einen sind es finanzielle Gründe. Warum sollte die Bundesregierung ausreichend Geld für Menschen zur Verfügung stellen, die zum Großteil Deutschland wieder verlassen müssen, ist das Kalkül. Zum anderen wird versucht, die Bundesrepublik möglichst wenig attraktiv für Flüchtlinge zu machen. Nur so lassen sich Äußerungen deuten, die Hailbronner in der Verhandlung zu Protokoll gab. Überdurchschnittlich hohe Leistungen könnten im europäischen Vergleich zu einem Sogeffekt bei Asylbewerbern führen, so seine Einschätzung. Ein Schlag ins Gesicht für Menschen, die vor Elend und Krieg davonlaufen.

Christian Klemm

Quelle: Neues Deutschland

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