Süddeutsche Zeitung, 08.10.2012

Flucht nach vorn

Auf einem Marsch von Bayern nach Berlin kämpfen Asylbewerber für mehr Rechte


An der Glienicker Brücke waren Deutschland und Europa geteilt, seit bald 23 Jahren ist diese Teilung überwunden. Am Freitag aber ziehen Polizisten dort wieder eine Grenze hoch, sie besteht aus Kleinbussen der Marke Mercedes. Zu deren Rechten meldet sich blechern ,,die Nationalaldemokratische Partei Deutschlands". Die Stimme des Volkes, wie sie sich selbst nennt, braucht eine Verstärkeranlage, um gehört zu werden; denn da stehen nur acht Rechte mit zwei Fahnen - wie bei einem schlecht besuchten Kreisligaspiel. Beeindruckender ist dagegen das Aufgebot auf der anderen Seite der Busse: 200 Aktivisten, ein paar Bürger und Politiker flankieren die vorletzten Meter eines Protestmarschs, der im Regen unter dem platten-laugrauen Himmel Potsdams ein erstes Finale findet: Nach 28 Tagen und fast 600 Kilometern Fußmarsch erreichen 50 Asylbewerber die Stadtgrenze Berlins.

Die Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Iran, der Türkei. Im Besonderen kommen sie aber auch: aus Würzburg. Dort sind 20 von ihnen am 8. September losgelaufen und schon das Laufen selbst bedeutete Protest und einen bewussten Rechtsbruch. Für Asylbewerber gilt in Deutschland die Residenzpflicht. Ohne Erlaubnis dürfen Flüchtlinge ihren Landkreis nicht verlassen. Wer dagegen verstößt, begeht eine Ordnungswidrigkeit, im Wiederholungsfall eine Straftat.
Eine Ordnungswidrigkeit war es, als die Flüchtlinge auf ihrem Marsch das erste mal an eine deutsch-deutsche Grenze gelangten. Im Wald zwischen Bayern und Thüringen zerfetzten sie ihre Aufenthaltsgestattungen und füllten die Schnipsel in Kuverts, adressiert an das Bundesamt für Migration in Niürnberg. Dann liefen sie weiter, durch Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg. Es rumpelte unterwegs ein paar Mai, weil die NPD sich entlang der Route hier und da aufblies.

Was von diesem Marsch aber bleibt, ist etwas anderes: Polizisten, die den Zug nicht auflösten, sondern ihn ruhig begleiteten. Der Bürgermeister von Henneberg,der den Asylbewerbern eine Wiese zum Campieren organisierte und ihnen ein gemeindeamtliches Empfehlungsschreiben ausstellte. Politiker mehrerer Parteien, die die Anliegen der Flüchtlinge wort- und schrittreich unterstützten.

Diesen Flüchtlingen geht es vor allem, aber eben nicht nur um die Abschaffung der Residenzpflicht. Zu den Forderungen auf Flyern und im Netz gehört darüber hinaus: Abschiebungen stoppen, Flüchtlingslager schließen, die Ausgabe von Essenspaketen durch eine würdigere Lösung ersetzen. Den Forderungen haben sich unterwegs viele angeschlossen, auch solche, die den Status des Asylbewerbers inzwischen ablegen konnten. Maman Salissou Oumarou ist 37 und vor zehn Jahren aus Niger in die Bundesrepublik geflohen, "weil mein Land zerstört wurde". Acht Jahre lang war er Flüchtling, beim Protestmarsch an der Glienicker Brücke läuft er vorneweg. Warum? ,,Gerade weil ich selbst asylsuchend war, und weil ich weiß, dass es scheiße ist." Die letzte Etappe des Protestmarsches führt an diesem Wochenende nach Kreuzberg, und am 13. Oktober soll es eine Demonstration vor dem Bundestag geben. In einer Erklärung der Flüchtlinge heißt es, sie schauten "erwartungsvoll auf den Moment, an dem wir der Regierung in Berlin gegenüberstehen" werden. Die Bundesregierung wiederum plant derzeit eine Neuregelung zu den gesetzlichen Leistungen für Asylbewerber. Die Ressortabstimmung zum Asylbewerberleistungsgesetz stehe im Laufe der nächsten Woche an, sagte eine Sprecherin des Bundessozialministeriums am Freitag. Das Bundesverfassungsgericht hatte erst im Juli entschieden, dass Asylbewerber mehr Geld bekommen müssen.         

Von Cornelius Pollmer

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