Süddeutsche Zeitung, 02.11.2011

Flucht durch Europa

Eine Familie verlässt Afghanistan - und wird in den Mühlen der Asylbürokratie getrennt

 

Der heutige Mittwoch wird im Leben von Rosama Ghafari wohl als Tag eingehen, an dem sie noch einmal verschont blieb: Sie und ihre siebenjährige Tochter müssen nicht - von Polizeibeamten flankiert - in ein Flugzeug nach Ungarn einsteigen. Sie muss vorerst auch keine Angst davor haben, dass sie in einem der ungarischen Flüchtlingslager nicht die ausreichende medizinische Versorgung bekommt, die sie als Diabetikerin dringend benötigt.


Doch das ist lediglich ein vages Stück Sicherheit auf Zeit: Vor der drohenden Abschiebung bewahrt die Afghanin und ihr Kind im Moment nur eine im letzten Augenblick eingereichte Petition an den Deutschen Bundestag. In einer Rosenheimer Pension fiebert sie nun der Entscheidung entgegen - "in einer Art Ersatzabschiebehaft", wie es Agnes Andrae vom Bayerischen Fluchtlingsrat nennt. Denn nur wegen der kleinen Tochter bleibe Rosama Ghafari die Zelle erspart.


Lehnt jedoch der Bundestag ihre Petition ab, so muss sie mit dem Kind Deutschland definitiv verlassen. In Ungarn wiederum droht die Abschiebung der beiden nach Griechenland, wo ihre Odyssee quer durch Europa ihren Lauf genommen hatte. Der Fall Ghafari ist ein Familiendrama, von denen es derzeit in ganz Europa vermutlich Hunderte Fälle gibt.


Rosama Ghafan verließ ihre Heimat Afghanistan zusammen mit Ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern. Griechenland war ihre erste Station auf europäischem Boden. Ein Albtraum, wie die 40-Jährige berichtet: „Wir erhielten keine Unterkunft, kein Essen und keine Sozialleistungen, sondern waren gezwungen, auf der Straße zu leben. "Schließlich fällt die Familie einen verzweifelten Entschluss: Der älteste Sohn sollte sich allein nach Deutschland durchschlagen und dort Asyl beantragen. Monate später macht sich auch Rosama Ghafari mit ihrem jüngsten Sohn und der Tochter - der Vater blieb zunächst in Griechenland zurück - auf den Weg in Richtung Deutschland. Der älteste Sohn war in Landshut als Asylbewerber untergekommen.


Doch Ghafari und ihre beiden Kinder werden von der ungarischen Polizei aufgegriffen und, so erzählt sie, nach zwei Tagen im Gefängnis in ein Flüchtlingslager gebracht. Als ihre Abschiebung nach Griechenland angekündigt wird, fliehen die drei. Ein neues Drama nimmt seinen Lauf: Die Schleuser nehmen - wie Ghafari aussagt - nur sie und ihre Tochter mit, den jüngeren Sohn lassen sie zurück: „Unser Auto fuhr ohne ihn weg. Wir wussten nicht, was mit ihm passiert", sagt sie. Mutter und Tochter werden in Bayern kurz hinter der Grenze abgesetzt. Den Polizeibeamten kann sie nur ein einziges deutsches Wort sagen: „Asyl".


Die Polizisten bringen Mutter und Tochter von der Raststätte in Irschenberg nach Rosenheim - aber nicht als Asylbewerber, sondern als Personen, die zur Abschiebung unter Beobachtung stehen. Immerhin bekommt Ghafari nun eine angemessene medizinische Behandlung. Die Diagnose, die eine Rosenheimer Ärztin ausstellt, ist eindeutig: „Aktuell ist der Blutzucker massiv entgleist. Ohne weitere Therapie ist diese Entgleisung lebensbedrohlich, so dass ich eine Insulintherapie begonnen habe."


Der Flüchtlingsrat nimmt sich der Mutter und ihrer Tochter an - bestätigt durch die Einschätzung der Ärztin: „Ans medizinischen Gründen ist eine Abschiebung derzeit eine Bedrohung für das Leben der Patientin und auch für das Wohlergehen der siebenjährigen Tochter, so dass hiervon abgesehen werden sollte."


Aber auch Ghafaris psychischer Zustand ist labil. „Sie leidet unter extremen Angst- und Panikattacken", sagt Agnes Andrae vom Flüchtlingsrat. Ein Rosenheimer Facharzt für Nervenheilkunde kommt zu der Erkenntnis, dass die 40-Jährige bereits in Afghanistan durch „schlechte Bilder" belastet gewesen sei, und „die könne sie nicht vergessen".


Rosama Ghafari, so das Resümee des Arztes, sei psychisch sicher nicht fähig, eine Abschiebung zu verkraften". Der Flüchtlingsrat versucht nun, die auf den 2. November angesetzte Abschiebung durch eine eilends aufgesetzte Bundestagspetition aufzuhalten. Das bayerische Innenministerium muss jetzt eine Stellungnahme zu dem Fall erarbeiten. Die Abschiebung von Mutter und Tochter dürfte somit zumindest vorläufig vom Tisch sein. Durch die recherchen der Helfer weiß Rosama Ghafari mittlerweile auch, wo sich ihr jüngerer Sohn aufhält: in Österreich. Zudem hat sie erfahren, dass ihr Mann inzwischen in die Niederlande gelangt sei und dort Asyl beantragt habe. Aber ob sie die beiden jemals wiedersieht, das weiß sie nicht.


Von Dietrich Mittler

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