taz, 20.06.2012
Extrem wenig Geld – schon immer
Leistungen für Asylbewerber
Es besteht kaum ein Zweifel, dass das Bundesverfassungsgericht eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) verlangen wird. Das wurde am Mittwoch bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe deutlich. Offen blieb vor allem, ob Karlsruhe nur eine Neuberechnung fordert oder gleich höhere Leistungen anordnet.
Das Gesetz wurde 1993 beschlossen, als die Flüchtlingszahlen in Deutschland am höchsten waren. Gegenüber Sozialhilfeempfängern wurden die Sätze damals um 25 Prozent abgesenkt. Asylbewerber blieben meist eh nicht lange in Deutschland, hieß es zur Begründung, und müssten sich daher zunächst nicht sozial-kulturell integrieren. Vor allem aber wollte man angebliche „Lockwirkungen“ verhindern.
Seither wurden die Sätze für die Flüchtlinge nicht erhöht, im Gesetz stehen immer noch DM-Werte. Zwei Anläufe, wenigstens die Inflationsverluste auszugleichen, scheiterten am Bundesrat, weil die Kommunen die Kosten nicht tragen wollen. Ein Erwachsener erhielt demnach 2010 rund 225 Euro pro Monat.
Stattdessen wurde der Anwendungsbereich des Gesetzes immer mehr vergrößert. Während die reduzierten Leistungen zunächst nur ein Jahr lang gezahlt wurden, sind es heute schon vier Jahre. Galt das Gesetz zunächst nur für Asylbewerber, so wurde es inzwischen auf zahlreiche andere Gruppen ausgeweitet, vor allem auf Geduldete, deren Asylantrag bereits abgelehnt wurde.
Bundesregierung will am Gesetz festhalten
Das Landessozialgericht NRW hält das Gesetz für verfassungswidrig und bat das Bundesverfassungsgericht deshalb in zwei Fällen um eine Entscheidung.
Karlsruhe hat allerdings keine Einwände dagegen, dass Sozialleistungen für Flüchtlinge in einem Sondergesetz geregelt werden. Eine entsprechende Klage war schon vor Jahren abgelehnt worden. Die Bundesregierung will am Asylbewerberleistungsgesetz auch festhalten, erklärte Sozialstaatssekretärin Annette Niederfranke (CDU) für die Bundesregierung.
Dass aber zumindest Änderungsbedarf besteht, ist der Bundesregierung seit Februar 2010 klar. Damals forderte das Verfassungsgericht eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze, der Bedarf dürfe nicht nur geschätzt werden. Dass die pauschal abgesenkten Sätze für Flüchtlinge erst recht nicht den Transparenz-Anforderungen genügen, war danach offensichtlich.
Zur Enttäuschung der Verfassungsrichter schafften es Bund und Länder seither aber nicht, sich auf neue Sätze zu einigen. Das Problem sei sehr komplex, sagte Niederfranke, denn es gebe keine Daten über das Ausgabeverhalten von Flüchtlingen. Die Sachverständige Marei Pelzer von Pro Asyl konnte die Komplexität aber nicht erkennen: „Flüchtlinge haben kein anderes Existenzminimum als Hartz-IV-Bezieher.“ Die rheinland-pfälzische Integrations-Staatssekretärin Margit Gottstein (Grüne) schlug vor, die abgesenkten Sätze wieder auf ein Jahr Bezugsdauer zu beschränken.
Maßstab soll die Menschenwürde sein
Wie hoch die Sätze des Gesetzes künftig liegen, werde Karlsruhe „selbstverständlich“ nicht selbst berechnen, sagte die federführende Verfassungsrichterin Susanne Baer zu Beginn der Verhandlung. Maßstab müsse die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip sein. Bei der Konkretisierung habe der Gesetzgeber einen „Gestaltungsspielraum“.
Rechtsanwältin Eva Steffen, die die Verfahren ausgelöst hat, forderte das Verfassungsgericht auf, sofort einzuschreiten und nicht nur eine Frist zur Änderung zu setzen. Die Leistungssätze seien derzeit „evident unzureichend“. Mehrere Verfassungsrichter äußerten Sympathie für diesen Ansatz, vor allem weil die abgesenkten Sätze bereits 19 Jahre lang nicht an die Preisentwicklung angepasst wurden. Kay Hailbronner wies dies für die Bundesregierung zurück. Die Sätze seien zwar „extrem niedrig“, könnten aber bis zu einer Neuregelung bestehen bleiben. Staatssekretärin Niederfranke verwies auf das „Bildungspaket“, das nicht nur Hartz-IV-Kinder, sondern auch Flüchtlingskinder erhalten.
Das Urteil wird in einigen Monaten verkündet.
Christian Rath
Quelle: taz