Süddeutsche Zeitung, 19.07.2012

Ein Neubeginn

Rechte der Asylbewerber


Nun ist sie wieder da, die Angst. Dass Flüchtlinge massenhaft nach Deutschland drängen, weil dort die Sozialleistungen so üppig fließen. Dass Ausländer nach Deutschland reisen, um sich als angeblich Verfolgte die Zähne runderneuern zu lassen. „Irre! 11991 Mark für Asylfamilie – monatlich“, so titelte ein Boulevard-Blatt vor zwanzig Jahren, als Hunderttausende nach Deutschland kamen. Das war kurz bevor das Asylbewerberleistungsgesetz durchgesetzt wurde. Es schaffte die übliche Sozialhilfe für Flüchtlinge ab und ersetzte sie durch ein staatliches Armutspaket, dass nicht einmal das Existenzminimum sichert. Diese Asylhilfe hat das Bundesverfassungsgericht nun als Verstoß gegen Grundrechte verworfen. Die Unterstützung für Asylbewerber und viele andere Ausländer muss sich künftig in der Nähe der Hartz-IV-Sätze bewegen.

Zweifellos gibt es Ängste, die sich damit verbinden, man muss sie ernst nehmen - und entkräften. Es wird durch das Urteil keine neue Zuwanderungswelle wie Anfang der 1990er geben. Die Welt um Deutschland herum hat sich geändert, viele Flüchtlinge scheitern inzwischen schon an den Zäunen Europas oder stranden in Griechenland und anderen Grenzstaaten der EU. Es ist viel schwieriger geworden, die Verteidigungsmauern der Festung Europa zu überwinden, selbst wenn man sich sehnte nach einem Leben auf Hartz-IV-Niveau. Doch die meisten Flüchtlinge leiten andere Überlegungen auf ihren Weg: Wie gut sind in einem Land die Chancen, Asyl zu erhalten? Gibt es Freunde oder Verwandte, die mir helfen? Werde ich eine Arbeit finden?

Früher hätte es heißen müssen: Asylbewerber-Rausekelgesetz

Die Freiheit von Angst ist ein guter Rahmen, die Debatte um Flüchtlinge ehrlicher zu führen als bisher. Der Staat sprach bei der Asylhilfe von einem geringeren Bedarf der Ausländer, nutzte sie aber in Wirklichkeit zur Abschreckung von Flüchtlingen. Asylbewerber, abgelehnte Asylbewerber und Leute, die man nicht abschieben konnte, wurden damit abgespeist. Nur wer Asyl enthielt, konnte dem entkommen. Der richtige Name hätte heißen müssen: Asylbewerber-Rausekelgesetz. Den Abschlag auf das in der Verfassung garantierte Existenzminimum nahmen Bund und Länder dafür 19 Jahre lang in Kauf. Der Staat verbot den Flüchtlingen zu arbeiten und sprach vom Schutz einheimischer Arbeitsloser, tatsächlich raubte er den Menschen die Perspektive und zwang sie in Monotonie und staatliche Stütze. Er sprach von Residenzpflicht, meinte aber Kasernierung in großen Unterkünften. Mehr Ehrlichkeit geht auch die Flüchtlinge selbst an: Sie sprachen von Asyl, wollten in Wirklichkeit aber oft nur einwandern. Als das Gesetz 1993 in Kraft trat, wurden 95 Prozent aller Asylanträge abgelehnt.

Die bisherigen Regeln schadeten beiden Seiten: Der Staat musste abgelehnte Asylbewerber oft jahrelang unterstützen, teure Prozesse um ihren Status führen. Und die Flüchtlinge blieben ohne Ausbildung, Beschäftigung und Perspektive. Im Ergebnis sind mehr als eine halbe Million abgelehnter Asylbewerber letztlich doch in Deutschland geblieben, viele von ihnen abgehängt am Rande der Gesellschaft. Die Republik hat sich so selbst ein großes Integrationsproblem geschaffen.

Die Zahl zeigt nicht nur, wie schwierig es ist, Migranten, die nicht verfolgt sind, zur Ausreise zu bewegen. Sie belegt vor allem das Scheitern des bisherigen Primats der Abschreckung. Dessen Protagonisten haben den Unterbietungswettbewerb mit den Lebensbedingungen in Bagdad oder Kandahar nicht gewonnen, nicht einmal unter Umgehung des Grundgesetzes. Dabei ist diese Abschreckung weniger denn je begründet: Es gibt nicht nur deutlich weniger Asylbewerber als in den Neunzigern, inzwischen wird ein Drittel von ihnen als Schutzbedürftige anerkannt.

Bund und Länder sollten das Urteil nutzen für eine Generalsanierung des Flüchtlingsrechts. Es kann nicht nur um eine Anhebung der Asylhilfen auf Hartz-IV-Niveau gehen. Karlsruhe hat dem Gesetzgeber hier ohnehin Spielraum gelassen, weil es anerkennt, dass Asylbewerber anders als Hartz-IV-Bezieher keinen Anspruch auf einen voll ausgestatteten Haushalt haben. Die meisten Flüchtlinge träumen auch nicht davon, vom Staat zu leben. Sie wollen arbeiten, eine eigene Wohnung, Freunde treffen und reisen. Ein ganz normales Leben eben. Doch genau dies verwehrt ihnen bisher das Asylbewerberleistungsgesetz, mit Arbeits-, Umzugs- und Reiseverboten. Es behandelt Flüchtlinge, als seien sie eine Mischung aus Problemschüler und Straftäter. Wer an der Lage der Flüchtlinge zum Nutzen aller etwas ändern will, muss diese Verbote lockern. Die meisten Flüchtlinge sind jung und bringen einen enormen Aufstiegswillen mit. Nun gilt es, diesen zu entfesseln.

Roland Preuss

Quelle: Süddeutsche Zeitung

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