Abendzeitung, 23.04.2009
Ein Mediziner schlägt Alarm:„Die Unterkünfte machen krank“
AZ: Herr Stich, Sie haben den Einfluss der Gemeinschaftsunterkünfte auf die Gesundheit der Flüchtlinge untersucht. Was ist Ihr Ergebnis?
AUGUST STICH: Die Unterkünfte machen krank. Die Lebenssituationen führen dazu, dass Menschen Schaden nehmen – körperlich und psychisch.
Wie wirkt sich das auf die Flüchtlinge aus?
Vor allem Kinder sind die Leidtragenden. Sie leben auf engen Fluren mit anderen Familien zusammen, hinter Stacheldraht, auf geringem Wohnraum. Sie erleben ihre Eltern als unmündig und sind fremden Erwachsenen viel näher, als sie es in einem normalen Leben wären. Es kommt zu Gewalt und sexuellem Missbrauch. Alle Kinder sind verhaltensgestört - manche von ihnen so massiv, dass sie nicht mehr beschulbar sind.
Wir wirkt sich die katastrophale hygienische Situation in den Unterkünften auf die Gesundheit aus?
Es kommt immer wieder zu Durchfallerkrankungen, Wurminfektionen und Atemwegserkrankungen. Es gibt oft keine Seifenspender, kein Toilettenpapier. Viele der Flüchtlinge sind unter ganz anderen hygienischen Bedingungen aufgewachsen als Deutsche. Unter den derzeitigen Lebensbedingungen einer Gemeinschaftsunterkunft ist das Erreichen hygienischer Zustände praktisch nicht möglich, besonders nicht für Kinder.
Wie steht es um die Erwachsenen in den Lagern?
Uns fällt auf, dass viele sich Schmerzmittel verschreiben lassen. Dabei liegen oft gar keine organischen Probleme vor, sondern posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen. Diese Symptome werden durch die Wohnsituation in den Lagern und die unklare rechtliche Situation der Flüchtlinge verstärkt.
Welche Rolle spielte die Staatsregierung bislang?
Wir vermuten, dass die Politik bewusst eine Situation geschaffen hat, die so unattraktiv ist, dass die Flüchtlinge freiwillig in ihre Heimat zurückkehren. Man möchte nicht, dass die Leute integriert werden.
Wie ist die medizinische Versorgung für Flüchtlinge?
Schlecht. Wenn ein Kind Zahnschmerzen hat, wird der Zahn gezogen, nicht behandelt. Wenn jemand einen Muskelriss hat, wird nicht operiert. Das alles lässt das Asylbewerber-Leistungsgesetz nicht zu. Diesen Menschen wird Schaden zugefügt. Sie müssen Zugang zu den gleichen medizinischen Leistungen bekommen wie deutsche Bürger, die Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind.
Interview: Volker ter Haseborg