Süddeutsche Zeitung, 05.07.2012

Ein Akt der Verzweiflung

Kommentar


Die protestierenden Iraner haben nun auch die Bestätigung vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof: Die Methode, mit der sie in Würzburg auf ihre Schicksale aufmerksam machen, ist rechtlich zulässig. Dass sich einige der Asylbewerber die Münder zugenäht haben, mögen Bürger in der Würzburger Innenstadt als abstoßend empfinden, Kinder möglicherweise als schockierend – und Menschen, die für die Forderungen der Flüchtlinge grundsätzlich ein offenes Ohr haben, als abstrus. Denn mit zugenähtem Mund kommt man schlecht ins Gespräch, sei es mit Passanten oder mit den verantwortlichen Politikern.

Es ist auch richtig, dass Selbstverstümmelung auf Verantwortliche wie eine Erpressung wirken muss und daher unter dem Strich kontraproduktiv sein könnte. Eines aber wird man bei aller Empörung über die Form des Protestes nicht vergessen dürfen: Hundert Tage am Stück haust keiner in einem Zelt, wenn er nicht existenziell betroffen ist. Diese Menschen in Würzburg hungern und nähen sich auch nicht deshalb die Münder zu, weil sie in der Zeitung stehen wollen. Es ist die Verzweiflung, die diese Menschen antreibt. Und es ist offenbar das Gefühl, dass sie ihren Mund in diesem Land zum Sprechen ohnehin nicht brauchen: weil ihnen zuwenig zugehört wird.

Tatsächlich sind es seit Jahren immer die gleichen Forderungen, mit denen sich die Staatsregierung konfrontiert sieht: Mit der Unterbringung von Flüchtlingen in kasernenähnlichen Lagern am Rande der Stadt, dort, wo es kaum einer mitbekommt, muss es endlich ein Ende haben. Ebenso wie mit der schlicht menschenunwürdigen, weil bevormundenden Versorgung mit Essens- und Hygienepaketen. Sie dienen offenkundig dazu, Asylbewerber zu zermürben – und die „Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland“ zu fördern, wie es in der bayerischen Asyldurchführungsverordnung heißt.

Olaf Przybilla

Quelle: Süddeutsche Zeitung

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