Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2012

Dürfen Flüchtlinge weniger bekommen als Arbeitslose?

Bundesverfassungsgericht hat offenbar Zweifel an der Vereinbarkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes mit dem Grundgesetz. Danach erhalten Flüchtlinge 30 bis 40 Prozent weniger Sozialhilfe als deutsche Arbeitslose


Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) weiß, welche Termine man selbst wahrnimmt - und wann man Mitarbeiter ins Feuer schickt. Am Mittwoch gab es für ihr Ministerium in Karlsruhe nicht viel zu gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht befasste sich mit den Leistungen für Asylbewerber, die 1993 unter dem Eindruck einer halben Million Flüchtlinge in Deutschland gesetzlich geregelt und seitdem nicht geändert wurden. Das hält das nordrhein-westfälische Landessozialgericht für einen Verstoß gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Es legte dem Ersten Senat in Karlsruhe zwei Fälle vor, der schon 2010 das Verfahren zur Ermittlung der Hartz-IV-Sätze beanstandet hatte. Die deutlich darunter und ebenfalls auf unklare Weise zustande gekommenen Leistungen für Asylbewerber lassen sich nach Ansicht der Kritiker nicht mit der besonderen Lage der Flüchtlinge rechtfertigen. Ist es also mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Flüchtlinge 30 bis 40 Prozent weniger bekommen als deutsche Arbeitslose?

Staatssekretärin Annette Niederfranke wies für die Bundesregierung auf den Spielraum des Gesetzgebers hin und beklagte fehlende Daten - und die „extreme Heterogenität“ zwischen den einzelnen Bundesländern: so gibt Bayern, wie eigentlich vorgesehen, an die Asylbewerber nur Sachleistungen aus, Berlin dagegen zahlt Geld. „Gern hätten wir ein verfassungskonformes Modell vorgelegt“, sagte die Staatssekretärin, deren Ministerin in Brüssel weilte und auf Nachfrage mitteilen ließ, hier handele es sich „nur“ um die mündliche Verhandlung. Auf Nachfrage von Vizepräsident Ferdinand Kirchhof nach einem Zeitplan kam die Antwort: „Wir sind auf dem Weg“. Sie warnte jedenfalls davor, einfach einen „Warenkorb“ für Asylbewerber zu übernehmen. „Wir können nicht alles über Geldbeträge lösen“.

„Sachleistungen teurer als Regelsätze“

Die Länder, an deren Widerstand mehrere Reformversuche scheiterten, sind mit dem Bund nicht einer Meinung. Die rheinland-pfälzische Staatssekretärin Margit Gottstein hob hervor, dass manche Länder gar die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordern. Sie hält es für „zweifelhaft, ob bestimmte Personengruppen abgesenkte Leistungen“ bekommen dürfen, obwohl diese Menschen hier geboren sind und einen sicheren Status haben. Wenn differenziert werde, dann nach der konkreten Lebenssituation. Sachleistungen, die von fast allen Kommunen des Landes ausgegeben würden, seien im Übrigen für den Staat teurer als die Auszahlung der 1993 festgelegten Regelsätze.

Aber ist nicht die Lage von Flüchtlingen, die eigentlich nicht auf Dauer hier bleiben sollen, nicht anders als die eines Deutschen, der nach zwanzig Jahren Erwerbstätigkeit seine Arbeit verliert, was etwa den gewohnten Lebensstandard und die soziale Teilhabe angeht?

Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, der ausgewiesene Ausländerrechtler Kay Hailbronner, forderte den Senat mit einem Hinweis auf die Lage in Europa heraus. Die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip müssten in einem größeren Kontext gesehen werden: So ergebe sich aus der europäischen Aufnahmerichtlinie, dass sich Asylbewerber auf elementare Dinge zu beschränken hätten. Von Teilhabe an kulturellen Leistungen ist dort nicht die Rede.

Die EU-Staaten wollten offenbar verhindern, dass großzügige Sozialleistungen zu anziehend wirken und eine Rückkehr in die Heimatstaaten verhindern könnten. Das ändere zwar nichts an dem menschenrechtlichen Existenzminimum - müsse aber im Rahmen des Spielraums des Gesetzgebers berücksichtigt werden. Das Existenzminimum eines Asylbewerbers könne sich jedenfalls nicht aus mathematischen Vergleich zu dem eines Hartz-IV-Empfängern ergeben. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, welche die deutschen Regelungen für völkerrechtswidrig halten, weil etwa Asylbewerber nicht für sich selbst sorgen dürfen, hielt Hailbronner die Unbestimmtheit der internationalen Vorgaben entgegen.

Ursprünglich galt das Asylbewerberleistungsgesetz nur für Flüchtlinge während des Asylverfahrens; die Anwendung wurde ausgedehnt. Derzeit seien rund 130.000 Menschen betroffen, zwei Drittel von ihnen lebten seit mehr als sechs Jahren in Deutschland, sagte die Berichterstatterin, Verfassungsrichterin Susanne Baer, die sich ansonsten in der mündlichen Verhandlung zurückhielt. Dass das Gesetz, welches selbst eine Anpassung vorsehe, wie Richter Andreas Paulus bemerkte, jedenfalls in seiner Umsetzung problematisch ist, musste auch die Bundesregierung eingestehen. Die Frage ist nur noch, wo und wie das Karlsruhe zur Reparatur ansetzt. Denn die konkreten Sätze für Pflaster und Wundsalbe sind wohl keine verfassungsrechtliche Frage.

Reinhard Müller

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung

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