Coburger Tageblatt, 05.11.2010

„Dieses Lager ist ein Skandal!“

Vertreter des bayerischen Flüchtlingsrats sind nach der Besichtigung der Unterkunft in der Coburger Uferstraße mehr als entsetzt.

Alexander Thal vom bayerischen Flüchtlingsrat (links) lässt sich von Nasdim Ibrahim das Etagenbad zeigen: 30 Personen müssen sich zweiWaschbecken teilen. Foto: Simone Bastian

 

„Schockiert“ sei er, sagt Alexander Thal. „Ich habe schon einige Lager gesehen, aber so etwas wie hier noch nie!“ Der Vertreter des bayerischen Flüchtlingsrats besichtigte gestern mit seiner Kollegin Agnes Andrae die Asylbwerberunterkünfte in der Scheuerfelder Straße und in der Uferstraße 11. „Da drinwimmelt es von Kakerlaken, die Wände sind voller Risse, und hier leben Leute seit zehn, 13, 15 Jahren!“
Die Vertreter des bayerischen Flüchtlingsrats besichtigen jedes Jahr in allen sieben Regierungsbezirken mehrere Heime. Dass Coburg in diesem Jahr an der Reihe war, ist Zufall – passt aber zu der Diskussion über die Zustände im Haus, die die FDP mit ihrer Anfrage an Zweiten Bürgermeister Norbert Tessmer angestoßen hatte. „Ich weiß ja, dass die Stadt nicht zuständig ist“, sagt FDP-Stadtrat Hans-Heinrich Eidt. „Aber die Stadt kann das doch auch nicht wollen.“ Zuständig ist die Regierung von Oberfranken. Thal empfiehlt aber noch eine Stufe höher: „Wenden Sie sich an Ihre Landtagsfraktion“, rät er Eidt. „Die Fraktionmuss die sofortige Schließung des Lagers fordern.“
Thal verwendet das Wort „Lager“ bewusst. In dem dreistöckigen Gebäude reiht sich Zimmer an Zimmer, die Türen mehr oder weniger stark beschädigt. Jeweils zwei Männer teilen sich die Räume in den beiden unteren Etagen. In einem der größeren Zimmer haben die Männer versucht, es sich einigermaßen wohnlich zu machen, mit Schränken einen Aufenthalts- und einen Schlafbereich abgeteilt. Die Tür klemmt im Rahmen, daneben blättert der Putz. Am Schrank klebt ein Putzplan für die Küche. Der Waschraum für die 30 Bewohner des Stockwerks befindet sich auf dem Flur. Er enthält zwei Waschbecken, mehr nicht. Mohamed Karechi weist auf den schäbigen PVC-Boden: „Das kann man doch gar nicht mehr richtig sauberhalten.“ Kakerlaken gibt es überall – in den Küchen, den Waschräumen, den Ritzen der Schränke.
Das Bad mit zwei Duschen befindet sich im Erdgeschoss. Die Anlagen sind neu  hergerichtet. „Die Unterkunft wird im Rahmen der Möglichkeiten, die die Regierung von Oberfranken als Mieter hat, in einen Zustand versetzt, dass auch in der nächsten Zeit eine menschenwürdige Unterbringung gewährleistet ist“, teilte Regierungs-Pressesprecherin Corinna Boerner auf Tageblatt-Anfrage mit. „Lasst die Leute in Wohnungen ziehen, das ist billiger. Ich will, dass dieses Ding hier so schnell wie möglich geschlossen wird“, schimpft Alexander Thal.

 

 Kakerlaken finden sich in allen Räumen. Die Regierung von Oberfranken schickte schon mehrmals Kammerjäger. Foto: Simone BastianIm April hat das bayerische Sozialministeriums Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte veröffentlicht, aber die bestehenden Häuser ausdrücklich ausgenommen. Sie sollen auf den Mindeststandard gebracht werden, so weit Geld dafür zur Verfügung steht. „Für eine grundlegende Renovierung ist der Eigentümer des Gebäudes zuständig“, sagt Regierungssprecherin Corinna Boerner.Die Regierung plant offenbar mittelfristig eine andere Lösung: Die „Immobilien Freistaat Bayern“ sei beauftragt, „wegen der steigenden Asylbewerberzahlen ober frankenweit neue Unterkünfte zu suchen, die als Gemeinschaftsunterkünfte angemietet werden können.“

 

 

Die größte Bitte: „Lasst uns arbeiten!“


Abdi Khani bereitet sich sein Essen zu. Die Bewohnermüssen sich nicht nur die Bäder teilen, sondern auch die Küchen. Foto: Simone BastianIn den Asylbewerberunterkünften leben nicht nur Asylbewerber, sondern auch etliche Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die in Deutschland nur geduldet sind. Nadhem Ibrahim ist einer von ihnen: Kurde aus Syrien, seit zehn Jahren hier. „Der syrische Staat erkennt die Kurden nicht an, also bekommen sie auch keine Papiere“, erläutert Alexander Thal vom Flüchtlingsrat. Der Asylantragwurde abgelehnt, Ibrahim ist geduldeter Flüchtling. Geduldeten droht die Abschiebung. „Hätte ich eine Aufenthaltserlaubnis, dann würde ich sofort Papiere bekommen“, erzählt Farhan Osso, ebenfalls syrischer Kurde. Aber die Aufenthaltserlaubnis bekommt er erst, wenn er Papiere vorlegen kann.
Der Vater von sechs Kindern weiß sich nicht mehr zu helfen: „Zehn Mal war ich schon in der syrischen Botschaft!“ Arbeiten darf er seit zwei Jahren – „die Arbeitserlaubnis gilt seit 18. Februar 2008. Am nächsten Tag haben meine Frau und ich Arbeit gehabt!“ Aber aus dem Heim ausziehen darf die Familie nicht. Wer Geld verdient, muss für die Unterkunft bezahlen: 195 Euro im Monat lautet der Preis für Alleinstehende, sagt Thal. Nur in Bayern müssen auch die geduldeten Flüchtlinge in den Unterkünften leben.
„Lasst uns arbeiten!“ sagt auch Mohamed Karechi. Der Algerier übernimmt Reinigungsarbeiten im Haus, eine der wenigen legalen Verdienstmöglichkeiten. Dafür gibt es 80 Euro im Monat. 40 Euro erhält ein erwachsener Asylbewerber oder geduldeter Flüchtling monatlich als Taschengeld, hinzu kommen die Essenspakete. „Ein Tag Reis, ein Tag Spaghetti, ein Tag Kartoffeln“, seufzt Fatima Muhamadi. Die junge Afghanin lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder im obersten Stockwerk. „Wir würden gern auch frisches Gemüse kaufen.“ Vom Taschengeld müssen die Flüchtlinge Anwaltskosten, Behördengänge, Telefonate und Fahrten finanzieren, erläutert Alexander Thal. „Dieser Taschengeldsatz gilt seit 1993 und wurde seither nicht erhöht.“
Deutsch lernen dürfen Flüchtlinge auch nicht, so lange ihr Verfahren noch läuft oder sie nur geduldet sind. Trotzdem können sich viele von ihnen auf Deutsch verständigen. Für Thal ein Beweis, dass sie sich integrieren wollen. Etliche von ihnen dürfen sich allerdings nur in Stadt und Landkreis aufhalten – laut Thal „eine Coburger Spezialität“: Üblich sei, dass Asylbewerber sich im Regierungsbezirk aufhalten, geduldete Flüchtlinge sich im gesamten Bundesland bewegen dürfen.


Ihr Traum: Polizistin


Foto: Simone BastianDie Mutter und zwei Brüder sind im Irak gestrandet, Fatima Muhamadi, ihr Vater und ihr Bruder haben es bis Deutschland geschafft. Ihr Asylverfahren läuft – aber ihnen droht die Abschiebung nach Griechenland, weil sie sich dort mehrere Monate aufgehalten haben, um auf den Rest der Familie zu warten. Die Frage, ob Flüchtlinge ins Erstaufnahmeland zurückgebracht werden können, liegt beim  Bundesverfassungsgericht. In Afghanistan wäre sie gern Polizistin geworden, erzählt die junge Frau. Dank Flüchtlingsbetreuer Elmar Jonas, der sich alsMitarbeiter
der Diakonie Kronach um die Flüchtlinge kümmert, kann sie mit ihrem Bruder einen Deutschkurs besuchen. Das Geld wird durch Spenden aufgebracht: Für ihren Bruder sammelte die Schule, für Fatima Elmar Jonas – und Stadtrat Hans-Heinrich Eidt legte die fehlenden 150 Euro drauf.

 

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Flüchtlinge leben in den beiden Sammelunterkünften im Stadtgebiet. Bei 63 läuft das Asylverfahren noch, 39 sind geduldet. In der Uferstraße 11 wohnen laut Auskunft des Bezirks 55 Menschen, in einem Nebengebäude noch einmal 15.

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Jahre hat der AlgerierMohamed Karechi schon in Deutschland verbracht, 14 davon in Coburg. Eigentlich gibt es für Flüchtlinge wie ihn eine Altfallregelung: Wer Papiere vorlegt, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Aber den Ausweis muss ihm das Land ausstellen, aus dem er geflüchtet ist.

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Euro ist das Essenspaket wert, das jeder Flüchtling pro Monat erhält. In manchen Fällen wird auch das Geld ausbezahlt, zum Beispiel, wenn jemand Diätkost benötigt.

Von Simone Bastian

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