Junge Welt, 08.09.2012

Dieses Boot ist nicht voll!

In Würzburg beginnt am Samstag ein 600-Kilometer-Marsch gegen die Residenzpflicht. Es gibt einen Dokfilm dazu

 

»Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär’. Oder als Flachbildscheiß – ich hätte wenigstens ’n Preis«, sang Schorsch Kamerun im Juni 2006 auf dem »Lenin«-Album der Goldenen Zitronen. Damals begann die noch relativ junge EU-Agentur Frontex mit ihrer »Operation Hera II«, bei der bis zum Jahresende »3887 illegale Einwanderer in 57 Cayucos (kleine Fischerboote) in der Nähe der afrikanischen Küste abgefangen und umgelenkt wurden« (Frontex-»Tätigkeitsbericht 2006«).
Innerhalb der EU sichert Frontex seit 2005 die Grenzen durch Sammelabschiebungen. Sonderflüge mit Zwischenstopps in einer wechselnden Zahl von EU-Mitgliedsländern werden organisiert und durchgeführt. Vor dem Hauptgebäude der Agentur in Warschau weht die weiße Fahne mit dem Firmenlogo (grüne Linie, blauer Kreis) über den Wörtern »Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit« direkt neben der EU-Flagge.

In einem dieser Frontex-Horrorflüge zu landen, droht Asylsuchenden in Deutschland etwa, wenn sie den zugewiesenen Landkreis verlassen. Solange ihr Asylantrag bearbeitet wird, verstoßen sie damit gegen das Residenzpflichtgesetz. Genauso streng ist es ihnen verboten, zu arbeiten oder einen Beruf zu erlernen. Viele verbringen vor ihrer Abschiebung Jahre in Sammelunterkünften. Oft sind das leerstehende Wohnsiedlungen in ländlichen Regionen, manche erinnern unweigerlich an Deportationslager. Die Zimmer bestehen aus Betten. Von den Wänden blättert die Farbe. Dutzende müssen sich eine Toilette teilen, wobei sich vor allem Frauen nachts kaum auf die unbewachten Flure trauen.

Isoliert vom Rest der Welt, haben diese Menschen Heimweh, Depressionen, Zukunftsangst, aber viele denken wie der Kameruner Cornelius Yufanyi im Dokfilm »Residenzpflicht« (2012): »Diese Folter wird in mir sein, bis ich sterbe. Bis ich sterbe, werde ich alles dafür tun, um dieses Gesetz abzuschaffen.«

Später in diesem Film der Regisseurin Denise Garcia Bergt ist es auf der Spree in Berlin-Mitte lebendiger als sonst. An einem Touristendampfer hängen »Stop Schily’s Racist Law«-Banner. Afrikaner rufen an Deck: »Dieses Boot ist nicht voll«. Der Kapitän bittet sie unter Deck. Polizisten konfiszieren Banner und Megaphone. Die gutgelaunten Afrikaner skandieren weiter: »Dieses Boot ist nicht voll!« Mit jeweils zwei Dutzend Asylsuchenden (unter Deck) und Polizisten (an Deck) schippert der Kahn am Bundes­innenministerium in Moabit vorbei.

Regisseurin Bergt, gebürtige Brasilianerin, vermittelt Asylpolitik und Alltagsrassismus vor allem in Perspektiven von Einwanderern. Eine Heldin des Films, die Kamerunerin Florence Sissako, verbrachte mehr als sechs Jahre in einem Übergangswohnheim in Hennigsdorf. Dieser Ort vereint die Ödnis maroder Plattenbauten mit Urwaldcharme. Berlin ist wenige Kilometer entfernt, eine Bushaltestelle direkt vor der Tür des Heims. Aber Sissako bekam keinen Urlaubsschein, um in Berlin zur Schule zu gehen: »Der Mann sagte: Sie haben nicht das Recht, auf eine Schule zu gehen. Und ich sagte: Doch. Die Schule ist durch die EU und den Senat von Berlin finanziert und nicht durch den Landkreis Oberhavel, und mein Transport ist auch durch die Schule bezahlt. Ich koste sie keinen Cent.« Da besorgte der Beamte Ausreisedokumente bei der Botschaft. »Ich war auf Abschiebung!« Als die kamerunischen Behörden die »Rückführung« der Republikflüchtigen nicht finanzieren wollten, ließ der Beamte Sissako nicht verhaften, sondern alle zwei Wochen vorstellig werden. Beim sechsten Mal genehmigte er den Sprachkurs. Die Willkür ist Prinzip. So sollen Asylsuchende abgeschreckt werden.

Cornelius Yufanyi ist vor fünf Jahren aus Kamerun gekommen. Für eine von ihm mitorganisierte Demo gegen die Residenzpflicht bekam er keinen Urlaubsschein ausgestellt. Für die Teilnahme wurde er schließlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Anwalt Ulrich von Klinggräff, der ihn vertreten hat, erklärt, Behörden seien mit selbstbewußten Asylsuchenden hoffnungslos überfordert: »An dem Prozeß wollten wir klarmachen, daß eine Ausländerbehörde gar nicht umgehen kann mit einem Fall wie Cornelius Yufanyi, der sich sein Recht auf politische Meinungsfreiheit einfach nimmt und dafür einsteht. Da ist mit komplett rechtswidrigen Mittel vorgegangen worden.« Wie bei Oury Jalloh aus Sierra Leone, der 2005 unter ungeklärten Umständen in der Zelle eines Dessauer Polizeireviers verbrannte, nachdem er betrunken einige Frauen belästigt haben soll. Niemals hätte der 21jährige in diese Zelle gesperrt werden dürfen, sagt Klinggräff: »Wenn man so einen alkoholisierten Menschen festnimmt, hat man natürlich die Pflicht, ihn komplett zu überwachen und alles zu tun, damit es nicht zu Gesundheitsgefährdungen kommt. Nach meiner Auffassung wäre es sogar verboten gewesen, Jalloh festzunehmen. Ihn sofort in ein Krankenhaus zu bringen, wäre die einzige sinnvolle Sache gewesen. Es ist nicht zu verstehen, weshalb er verhaftet wurde. Es ist nicht zu verstehen, wie ein Arzt einen Mann in diesem Zustand für ›gewahrsamstauglich‹ halten konnte.«

Brandenburg hat die Residenzpflicht vor zwei Jahren mit einigen anderen Ländern gelockert. Befürchtungen des Innenministeriums wie »verstärktes Untertauchen, Zunahme von Straftaten, Verzögerung von Asylverfahren mangels Erreichbarkeit« haben sich als haltlos herausgestellt. Seit Juli können Bundesländer nun untereinander vereinbaren, daß die Flüchtlinge das jeweils andere Land bereisen dürfen; der Willkür ihrer Sachbearbeiter bleiben sie weiter ausgesetzt.

Nach dem Suizid des iranischen Flüchtlings Mohammad Rahsepar Anfang des Jahres in einem Lager in Würzburg campierten Flüchtlinge dort monatelang in der Innenstadt, traten in Hungerstreiks, forderten die Abschaffung der Residenzpflicht und einen Abschiebestopp. Am heutigen Samstag nachmittag beginnen diese Flüchtlinge auf dem Marktplatz in Würzburg nach einer Kundgebung einen Protestmarsch. 600 Kilometer über Thüringen und Sachsen-Anhalt nach Berlin. Denise Garcia Bergt bestätigte am Freitag, daß ein Protagonist ihres Films, Osaren Igbinoba, an dem Marsch teilnehmen wird. Im Film erklärt dieser freundliche, ältere Mann aus Nigeria: »Die Leute sollen wirklich sehen, daß wir nicht nur hierbleiben wollen, sondern mit ihnen zusammen das System bekämpfen.«

Von Lena Schiefler

Link zum Beitrag:
http://www.jungewelt.de/2012/09-08/015.php

»Residenzpflicht«, Regie: Denise Garcia Bergt, D 2012, 71 min, residenzpflichtdoc.com

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