Süddeutsche Zeitung, 22.12.2008

Der Heilige Abend im Container

In der maroden Flüchtlingsunterkunft an der Waldmeisterstraße feiern irakische Christen Weihnachten - danach wird umgezogen

Um das Fenster haben sie eine kleine Lichterkette gespannt, auf dem Fernseher steht ein Christbaum, ein paar Zentimeter hoch nur, aber auch er leuchtet. Madjid Ahmed ist glücklich. "Happy", sagt er, "I am so happy!" Leise spricht er, und dabei hat er ein Lächeln auf den Lippen, das viel mehr sagt als laute Worte es könnten. "We are safe", wir sind sicher. Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass Madjid Ahmed, seine Frau, ihre fünf Kinder und der Opa nach Deutschland gekommen sind, aus dem Irak, weil ihr Leben dort nicht mehr sicher war. Sie sind Christen. Sie leben jetzt in München, Waldmeisterstraße, Lerchenau.

Es gibt in dieser Stadt ein paar Orte, die sind wie Fenster. Man kann dort hinausschauen in eine Welt, in der nur das Überleben zählt. Man kann aber auch in das eigene Land hineinblicken dort, und man lernt viel über Menschenwürde und das Gegenteil, man hört Politiker reden und Bürokraten handeln. Das Zuhause der Familie Ahmed ist so ein Ort, gelegen zwischen einem Acker und einem Gewerbegebiet. Eine jener Flüchtlingsunterkünfte, die in den vergangenen Wochen für großen Wirbel gesorgt haben. Die Anlage besteht aus Dutzenden baufälligen Containern, gestapelt zu zwei länglichen Gebäude-Quadern. Ende Januar werden die Ahmeds hier ausziehen.

Früher, erzählt der Vater, Mitte vierzig ist er, früher sind sie immer zusammengekommen an Weihnachten, die ganze, große Familie. Entweder seine Geschwister sind von Bagdad in den Norden gereist, wo er mit den Seinen wohnte, oder umgekehrt. Man war zusammen für drei, vier Tage. So war Weihnachten im Irak, bei einer Familie christlichen Glaubens. Es klingt wie Weihnachten in München.

15,5 Quadratmeter hat die Familie jetzt, als Wohnzimmer, Esszimmer, Kinderzimmer, Speisekammer. Der Fernseher mit dem Christbaum oben drauf steht auf einem Kühlschrank, es gibt noch einen zweiten, neben dem grüngrauen Spind. Der ist voll mit Konserven aus den Essenspaketen, die zweimal die Woche angeliefert werden. Ihr Schlafzimmer ist auf der anderen Seite des Flures, dort haben sie nochmals 16 Quadratmeter für acht Betten. Acht Flüchtlinge heißt Anspruch auf zwei Zimmer, also zwei Container, Vorschrift ist Vorschrift.

Sie haben alles verkauft

Jamin, der Jüngste, drei Jahre alt, spielt auf dem Boden, Suzan, 20, die älteste der Kinder, hilft manchmal aus, wenn dem Vater die passenden Worte fehlen. Die Eltern arbeiten für die Hausherren, die Regierung von Oberbayern: Sie putzt die Flure und kriegt einen Euro dafür pro Stunde, er auch fürs Wäschewaschen. Vier Stunden arbeitet der Vater pro Tag, früher waren 16 Stunden normal. Die viele Zeit nutzen die Eltern zum Deutschlernen, die Kinder tun das in der Schule. Wieder und wieder sagt Madjid Ahmed, wie gut sie es haben in Deutschland, "ich sehe das Negative nicht".

So spricht ein Vater, der seine Familie in Sicherheit gebracht hat, und es schwingt in seinen Worten, das sei ausdrücklich gesagt, keinerlei Ironie mit. Man könnte darauf kommen, wenn man weiß, was in den vergangenen Wochen über ihr Zuhause geredet wurde im Landtag, was in den Zeitungen stand über die Container in der Waldmeister- und auch der Rosenheimer Straße, in denen mehr als 300 Flüchtlinge leben müssen. "Inakzeptabel", hat dazu sogar die Sozialministerin von der verantwortlichen Regierungspartei CSU gesagt.

Und dennoch, es gibt auch Glück an diesen Orten. Ahmed ist Akademiker, er betrieb ein Ingenieurbüro, besaß Anteile an einer Fabrik, und die Familie lebte in einem großen Haus. Doch was sie besaßen, war in Mosul im Nordirak. Die Stadt am Tigris kennen die Deutschen seit ein paar Jahren aus der Tagesschau. Immer dieselben Bilder. Menschen werden ermordet, weil sie Christen sind. Die Ahmeds haben sich nicht mehr auf die Straße getraut, berichtet der Vater, nicht in die Schule, nicht zum Einkaufen, nicht mehr in die Kirche. Früher, da haben sie sich an Heiligabend um zehn Uhr aufgemacht zum Gottesdienst. Und dann haben sie die Geburt jenes Kindes gefeiert, dem, so steht es bei Matthäus, der Herrscher bald nach dem Leben trachten sollte. Der Sohn Gottes wurde zum Flüchtlingskind.

Das Zweistromland ist kein sicherer Ort mehr, erst recht nicht für Christen. Die Ahmeds haben alles verkauft, Büro, Fabrik, Haus, viele Tausend Dollar haben sie dafür bekommen, aber es reichte gerade mal für die Flucht, das Überleben hat seinen Preis. Der Vater erzählt, wie die Familie auf dem Weg nach München einmal getrennt war; wie Suzan und ihr Bruder, um nicht zu verdursten, Flüssigkeit aus einem kleinen Plastikfläschchen trinken mussten, die eigentlich gedacht war für Suzans Kontaktlinsen. Es ist eine Flucht, die beinahe ins Verderben geführt hätte. Nun läuft ihr Asylverfahren, und immerhin, sie haben als irakische Christen gute Chancen, bleiben zu dürfen.

Wer als Journalist Bewohner der Unterkünfte besuchen will, braucht eigentlich eine Genehmigung, so will es die Hausordnung der Regierung von Oberbayern. Die Beamten begründen das mit dem Schutz der Bewohner vor aufdringlichen Fragen und Kameras, "wir wollen wissen, wer da ist". Dieser Schutzgedanke aber habe dazu geführt, dass die Regierung ihre Container vor dem Pressebesuch aufhübschen lässt. "Wenn das Fernsehen kam, dann wurde sehr intensiv geputzt", sagt eine Caritas-Mitarbeiterin. Ebenso, als Abgeordnete des Landtags kamen. Nein, nein, entgegnet der Sprecher der Regierung, so was sei Zufall. "Die Unterkünfte werden regelmäßig hergerichtet", und die Container in der Rosenheimer Straße hätte man 2009 komplett saniert.

Soweit kommt es jetzt nicht mehr. Aber es musste noch viel passieren, ehe die unwürdigen Anlagen nun verschrottet werden. Der Menschenrechtskommissar des Europarats besuchte die Rosenheimer Straße und fragte, ob die Zwangsunterbringung dort nicht eine Verletzung der Menschenrechte sei. Die Grünen und der Flüchtlingsrat forderten immer wieder den Umzug der Bewohner, "aber es passierte nichts", sagt eine Caritas-Mitarbeiterin. Es musste im November schon der Münchner Stadtrat, mit CSU-Stimmen wohlgemerkt, das Aus fordern; es mussten Fotos von Rattenlöchern an die Öffentlichkeit kommen und ein Video, auf dem die Tiere durch eine Küche laufen; es musste ein geheimes Hygienegutachten publik werden; es musste die neue Sozialministerin Druck machen bei der Regierung, und es musste der Landtag einstimmig beschließen: Schluss! Plötzlich ging alles ganz schnell, und der Regierungspräsident tat kund, wie "erleichtert" er doch sei über das Ende der Container. Das sagte der Leiter jener Behörde, die wenige Tage zuvor ein Vier-Mann-Container-Zimmer mit einer Wohngemeinschaft verglichen hatte und den Flüchtlingen die Schuld an der Misere zuschob: Hätten halt besser putzen sollen.

29. Dezember. Dieses Datum macht Hester Butterfield und ihrer Kollegin Sabine Hodek in der Rosenheimer Straße viel Arbeit. Wenn München zwischen den Jahren weihnachtlich ruht, wird die Unterkunft umziehen. Noch sitzen die beiden Caritas-Mitarbeiterinnen zwischen zwei dreispurigen Autoschneisen in einem winzigen Büro, hier betreuen sie an die 200 Flüchtlinge, sie arbeiten unter wild gespannten Verlängerungskabeln, eingeklemmt von braun verkleideten Wänden. 12,9 Quadratmeter haben die vier Caritas-Frauen, ihre Container sind noch kleiner als in der Waldmeisterstraße, ihre Schreibtischstühle sind Plastikhocker. Nebenan müssen sich bis zu vier Menschen in derselben Enge zurechtfinden, und dafür verlangt der Staat, wenn ein Flüchtling verdient, 185 Euro Kaltmiete. Pro Person. Auf dem freien Markt wäre das Wucher.

Und dennoch, die Caritas-Frauen strahlen. Sie sind glücklich, endlich rauszukommen aus diesem Verschlag, der seit 16 Jahren hier steht. Wo es in den Toiletten kein Klopapier gibt und keine verschließbaren Türen, und im Familientrakt auch keine funktionierende Spülung - dafür einen Wassereimer. Die Regierung übrigens nennt die Toiletten "voll funktionsfähig".

Gleich werden die Caritas-Betreuerinnen wieder eine Gruppe von Bewohnern zu beruhigen versuchen, denn die Verunsicherung ist groß: Mit wem teile ich das Zimmer? Kriegt der Sohn einen Kindergartenplatz? In welche Schule kommt die Tochter? Kriegen sie rechtzeitig das neue MVV-Ticket oder sind sie zum Schwarzfahren gezwungen? Nachdem über Jahre nichts geschah, wird nun alles überstürzt. Immerhin, die Waldmeisterstraße zieht vier Wochen später um, ein paar Tage mehr Zeit, um das Nötigste zu regeln.

Außer, dass alle Bewohner der Rosenheimer Straße in eine bessere Unterkunft im Moosfeld ziehen werden, sei bislang noch gar nichts klar. Die Regierung, berichten die Caritas-Betreuerinnen, habe den Bewohnern zunächst nur Müllsäcke angeboten, um darin ihre persönliche Habe zu transportieren. Stimmt nicht, entgegnet der Behörden-Sprecher, man gebe auch Umzugskisten aus, zwei pro Person, und bei den Säcken handle es sich um "Mehrzwecksäcke", um darin etwa Kleider zu transportieren. Naja, meint der Sprecher dann noch, für Müll seien die Säcke schon auch da.

Man vergisst leicht, dass es in dieser Container-Debatte um Menschen geht, die oft jahrelang in einem solchen Zuhause leben müssen; um Familien, denen die Politik täglich zuruft: Ihr müsst euch integrieren, wenn ihr dableiben wollt! Strengt euch an!

Es klopft immer wieder an der Caritastür, Bewohner suchen Rat und Hilfe, die Aufregung ist groß, und eigentlich müssten Hester Butterfield und Sabine Hodek auch die Weihnachtsfeier für den nächsten Tag vorbereiten. Aber egal, sie bleiben dafür halt abends länger und erzählen weiter. Von den Kindern zum Beispiel, die neulich in der Bastelgruppe aus Klorollen Katzen gebastelt haben - die Papp-Katzen haben im Spiel der Kinder die Ratten gefangen. Oder vom Zusatzcontainer, um den man vor Monaten die Behörde gebeten habe. Bekommen hat die Caritas einen hellblauen Sanitärcontainer mitsamt der Einrichtung. Wie aber soll man zwischen stinkenden Kloschüsseln Arbeitsmaterial lagern? Für die Regierung ist es "nicht nachvollziehbar", dass die Caritas den Klocontainer plötzlich nicht mehr gewollt habe, so der Sprecher. Man habe ihn doch "besenrein" übergeben.

"Wir müssen dankbar sein"

Hester Butterfield und Sabine Hodek jedenfalls sind froh, dass ihnen die Politik endlich beisteht: "Wir freuen uns, dass der Landtag jetzt parteiübergreifend auf alles schaut", sagt Butterfield. "Das habe ich die letzten 15 Jahre nie erlebt, das gibt eine ganz neue Perspektive."

Madjid Ahmeds Familie steht der Umzug in die dritte Unterkunft in München bevor, innerhalb eines halben Jahres: Baierbrunner Straße, Waldmeisterstraße - und nun? Der Vater wird auch dann nicht hadern, wenn sie wieder nur zwei Zimmer kriegen sollten zu acht. Er sieht nur die Lichter, die im Advent überall leuchten, "beautiful!" Er lächelt sein leises Lächeln, und seine Frau sagt: "Wir müssen dankbar sein." Neulich haben sie im Supermarkt einen Christbaum gesehen, einen kleinen, einen Meter hoch vielleicht. Er hätte, erinnern sie sich, 13 Euro gekostet, da haben sie ihn stehen lassen. Eine deutsche Familie aber hat ihnen einen Adventskranz vorbeigebracht. Es sind unzählige Helfer, die im Verborgenen arbeiten, die Hunderten, Tausenden Flüchtlingen in München das Leben etwas leichter machen, und so ist es auch eine Ehrenamtliche, die Mutter und Vater Deutsch lehrt.

Madjid Ahmed sagt, dass alles relativ ist, wie bei Einstein, und er meint das Leben in den zwei Zimmern aus Metall. Wer den Tod gesehen hat, sagt er, der kann mit ein bisschen Fieber gut leben. Bald, da ist er sicher, werden die Kinder die Universität besuchen, was sind da ein paar beschwerliche Monate. Und jetzt, am ersten Heiligabend in der Fremde, werden sie zusammensitzen, in kleiner Runde zwar, wie zuletzt in der Heimat, fünf Kinder, die Eltern, der Opa, aber in Sicherheit. Die Mutter wird in die Küche gehen, die sie sich mit allen anderen auf dem Stockwerk teilt, und wird aus den Essenspaketen etwas kochen. Dann werden sie gemeinsam essen in ihrem Container, Kerzen anzünden, und wer auf dem Flur vorbeigeht, wird Lieder durch die dünnen Wände hören. Später werden sie in die Kirche gehen und sich über das Kind freuen, das vor langer Zeit in einem Stall zur Welt kam.

Bernd Kastner

(Name der irakischen Familie von der Redaktion geändert.)

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