Mainpost, 30.01.2012

„Das System an sich in Bayern ist menschenverachtend“

Missio-Chefarzt kritisiert die Staatsregierung und schickt Kriseninterventionsteam in die Gemeinschaftsunterkunft

 

„In der Gemeinschaftunterkunft gibt es sehr viele Bewohner mit schweren psychischen Störungen.“ Meist sei es eine Depression, sagt Dr. August Stich, Chefarzt an der Missionsärztlichen Klinik in Würzburg. Als Ursachen nennt der Tropenmediziner, der mit seinem Ärzteteam die Asylbewerber medizinisch betreut, „Entwurzelung, Traumatisierung, Perspektivlosigkeit“.

In Richtung München beziehungsweise Sozial- und Innenministerium schickt Stich harte Worte: „Das System an sich in Bayern ist menschenverachtend. Junge Menschen wollen ihr Leben neu starten und dann bringen sie sich um. Da läuft grundsätzlich etwas falsch.“ Auch sei die medizinische Versorgung bei psychischen Erkrankungen laut Stich unzureichend beziehungsweise nicht Teil des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dort sei klar formuliert: Nur bei einer lebensbedrohlichen Situation wird ein Asylant oder Flüchtling medizinisch betreut.

Depressionen sind generell der Hauptgrund für Selbsttötungen, sagte der Vorsitzende des Nationalen Suizidprogramms für Deutschland, Professor Dr. Armin Schmidtke, erst vor wenigen Monaten in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Nach Angaben des Seniorprofessors an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Würzburg sei eine Depression eine ernsthafte psychische Erkrankung und keine allgemeine Befindlichkeitsstörung, die mit der Zeit von alleine wieder verschwindet.

Für August Stich ist nun wichtig, dass es keine Nachahmer gibt. „Wir müssen jetzt Menschenleben retten“, so Stich. Ein Kriseninterventionsteam sei in der Gemeinschaftsunterkunft (GU), um einen weiteren Suizid zu verhindern. Problem dabei sei, dass es im Mittleren Osten eine andere Verarbeitung bei Suizid gebe als im Westen. „Es gibt nicht nur eine sprachliche Barriere, sondern auch eine kulturelle.“ Zudem fallen, so Stich, Menschen in solchen Unterkünften in ein tieferes Loch als andere. Weil sie entwurzelt sind, keine Perspektive haben. Sie werden nicht von Freunden oder der Familie aufgefangen. „Sie haben niemanden“, sagt Stich. Bis auf einige ehrenamtliche Helfer: Sie versuchen den Flüchtlingen zur Seite zu stehen, wo es geht. Die Würzburgerin Eva Peteler zum Beispiel. Sie hat an vielen Asylbewerbern beobachtet, wie ihnen die völlige Ungewissheit über ihren Verbleib und ihre Zukunft zusetzt.

Der Mann, der keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich das Leben zu nehmen, sei in seinem Heimatland gefoltert worden, sagen Mitbewohner. Rund 40 Prozent der Asylbewerber und Flüchtlinge in Deutschland würden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, zitiert die Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse, Dr. Waltraut Wirtgen, eine Studie der Universität Konstanz von 2005. Älteren Studien zufolge wiesen nach Folter sogar 87 Prozent der Menschen Traumafolgestörungen auf. An diesen Zahlen habe sich bis heute nichts geändert, sagt Wirtgen, langjährige Mitarbeiterin bei Refugio, Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer in München. Auch sie bestätigt, dass dies in den Asyl- und Ausländergesetzen nicht berücksichtigt würde und fordert deshalb: „Speziell ausgebildete Heilberufler und Psychologen müssten parallel zum Asylverfahren Trauma-Patienten identifizieren.“

„Wir haben keinerlei Erkenntnisse, dass die Selbsttötung in einem Zusammenhang mit der GU steht“, sagt Johannes Hardenacke, Pressesprecher der Regierung von Unterfranken, auf Anfrage. Hardenacke betont, dass die Regierung für Dinge wie Unterkunft oder Verpflegung zuständig ist, nicht jedoch für die medizinische Versorgung. „Als der Mann am Samstagnachmittag über Probleme geklagt hat, hat das Wachpersonal richtig reagiert, ihn zur medizinischen Versorgung in eine Würzburger Einrichtung bringen lassen.“ Als der Mann von dort zurückkehrte, habe es keinerlei Hinweise auf eine Suizidgefahr gegeben, so Hardenacke. GU-Leiter Armin Sauermann äußerte sich am Montag betroffen über Tod des Iraners: „Ich kannte ihn. Aber von Problemen hat er nie gesprochen. Hätte ich was gemerkt, hätte ich reagiert.“ Reagiert haben am Montagabend die Veranstalter des wöchentlichen Würzburger Montagsspaziergangs und diesen zu einem Trauermarsch für Mohammad R. erklärt.

Von Christine Jeske und Norbert Hohler

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