Nürnberger Zeitung, 08.10.2010
Das Elend hinter der Fassade
„Netzwerk Deutschland Lagerland“ tourt durch Flüchtlingsunterkünfte
Das „Netzwerk Deutschland Lagerland“ ist seit am Donnerstag auf seiner „Schmutzige-Donnerstag-Tour“. Die Netzwerk-Vertreter wollen Flüchtlingslager in allen bayerischen Bezirken in Augenschein nehmen und auf die Missstände dort aufmerksam machen. Dabei sind es nicht immer die Bedingungen in den Unterkünften, die das Leben der Flüchtlinge schwer machen. Der Besuch in einem Erlanger Lager, der ersten Station der Tour, machte dies deutlich.
Das Haus in der Keltschstraße sieht von außen unspektakulär aus. Nur die vielen provisorischen Aufkleber auf den Briefkästen verraten, dass es eine Unterkunft für Flüchtlinge ist. Und diese haben noch Glück – zumindest, was ihre Wohnverhältnisse betrifft. „Im Vergleich zu anderen Lagern ist es nobel hier“, sagt Markus Schuler, Mitglied des Netzwerkes. So teilt sich zum Beispiel Aida (Name geändert) mit einer anderen Frau eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Erlanger Unterkunft. Bescheiden, aber liebevoll eingerichtet: Vorhänge, Couch, Teppich, alles in blauen Farbtönen.
Der Schein ist trügerisch
Doch die Fassade trügt. Klar, die Essenspakete zeichnen sich nicht durch Abwechslung, oft auch nicht durch Frische aus. Aber Aida hat größere Sorgen als diese.
Eine Frau mit kaputtem Leben solle man sie nennen, sagt sie. Ihr echter Name soll nicht in der Presse stehen – zu groß die Angst vor Konsequenzen seitens der Ausländerbehörde. „Dabei kann es kaum schlimmer werden“, sagt Anne Maya vom „Internationalen Frauencafé“, die mit Aida viel zu tun hat. Aida ist in Aserbaidschan aufgewachsen. Über das, was sie dort erlebt hat, spricht sie nicht, nur so viel: „Ich bin Frau und Mutter. Welche Mutter verlässt ihr Kind einfach so? In Aserbaidschan habe ich kein Leben, keine Hilfe.“
Die junge Frau leidet unter Epilepsie, hat täglich mehrere Anfälle, und ist psychisch krank. Zwei Stapel mit medizinischen Attesten hat sie auf den Tisch in ihrem Wohnzimmer gelegt: Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, Ängste, Depression sind einige der 26 Diagnosen von Aida. Damit hat sie in ihrem Heimatland keine Chance, Fuß zu fassen. Allein die Reise wäre eine zu große Herausforderung: Ein Gutachten bestätigt Aida, dass sie nicht reisefähig ist.
Einen sicheren Aufenthaltsstatus hat sie dennoch nicht, alle drei Monate muss sie auf die Verlängerung ihrer Duldung hoffen. „Die Frau ist krank, es gibt für die Ausländerbehörde keinen Grund, dran zu bleiben“, findet Maya. Die Behörde sieht es aber anders, berichtet Maya: „Sie sehen in Aida eine Gefahr für Deutschland.“ Die Behörde verweist dabei auf die Straftaten von Aida.
Dazu zählt etwa die Tatsache, dass die Frau bereits einmal zwangsabgeschoben wurde – in Begleitung von vier Ärzten – und wieder ins Land eingereist ist. Dass dies laut Gesetz ein Vergehen ist, hat Aida sehr schnell zu spüren bekommen. Sie erzählt von einer Odyssee mit Übernachtung auf der Polizeiwache und 44 Tagen in der Justizvollzugsanstalt, trotz ihres schlechten gesundheitlichen Zustands. „Dort wollten sie mich zwingen zu unterschreiben, dass ich ausreisen werde“, so Aida. Sie unterschrieb nicht.
Wie es weitergehen soll, weiß Aida nicht. Sie braucht viele Medikamente und eine Psychotherapie, doch aufgrund ihrer prekären Lage hat sie keine Krankenversicherung. „Deswegen muss das Sozialamt entscheiden, was bezahlt wird. Die Behandlungskosten werden übernommen, aber nur bei akuten und schmerzhaften Beschwerden“, erläutert Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat, einer der vielen Organisationen, die dem Netzwerk angehören. Unter diese Kategorie fällt Aida offenbar nicht: Zu ihrer Psychiaterin, die sie eine Zeit lang behandelte, darf sie nicht mehr.
„Ich will nur Schutz. Jeder Mensch braucht Schutz“, sagt Aida und drückt ihr Kuscheltier, einen Affen, ganz fest an sich. Nur als sie von ihren Freunden spricht, die keine Flüchtlinge sind, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Die haben sie im Lager ein paar Tage nach ihrem Umzug nach Erlangen besucht. Kurz darauf brachten sie ihr die ganze Wohnungseinrichtung mit. Denn abgesehen von ein paar Küchenutensilien hatte sie im Lager nur ein Bett ohne Matratze bekommen.
Ella Schindler