Augsburger Allgemeine, 19.06.2010
Das Asyl machte ihn verrückt
Es wird viel über die miserablen Zustände in Augsburger Flüchtlingsunterkünften diskutiert. Was das Leben dort mit einem Menschen anrichten kann, zeigt das Schicksal des Inders C. Singh (37 Jahre). In seinem Leben zeigen sich die Zusammenhänge der Globalisierung zwischen Indien und Augsburg auf erschreckende Weise.
C. Singh ist Angehöriger der Sikh. Diese religiöse Gruppe, erkennbar in ihren Turbanen, stellt traditionell viele Mitglieder der indischen Armee. Sikh-Leibwächter waren es, die 1984 Premierministerin Indira Gandhi erschossen. Auch später gab es Konflikte um die Gemeinschaft, die die Unabhängigkeit des Bundesstaates Punjab im Nordwesten Indiens betrieb. Singhs Vater, ein Offizier, wurde vergiftet.
Mit Mitte 20 plötzlich Familienoberhaupt, war Singh völlig überfordert. Er arbeitete als Fahrer, hatte nichts Richtiges gelernt, sollte nun die Familie ernähren. Und er hatte Angst ebenfalls ermordet zu werden. Deshalb ging er nach Deutschland. Dort wurde er nicht als verfolgt anerkannt, aber auch nicht abgeschoben.
Elf Jahre lebte er in der Tristesse der Asyllager, darunter der Augsburger Flak-Kaserne beim Klinikum, tausende Kilometer getrennt Frau und Kindern. Arbeiten durfte er nicht, weil er nur geduldet war. Er begann mit dem, was unter Sikh streng verpönt ist: Alkohol, Zigaretten, rutschte in die Depression. Dann wurde er - für Asylbewerber nicht ungewöhnlich - ins Bezirkskrankenhaus eingewiesen. Diagnose: paranoide Schizophrenie - Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Wahrnehmungsstörungen.
Im BKH behandelte man ihn mit Medikamenten. Als er wieder entlassen wurde, ging er als erstes in ein Geschäft, nahm zwei Schokoladentafeln, aß eine an Ort und Stelle auf und steckte die andere ein. Der Geschäftsführer rief die Polizei. Singh kam vor Gericht, dann ins Gefängnis. Der Grund: vorbestraft. Schließlich hatte er vorher schon einmal ein Bier gestohlen. Da half es nichts, dass der Gutachter betonte, er sei gar nicht zurechnungsfähig. Da half es nichts, dass sein Anwalt auf die hohen Kosten hinwies. Und auch nicht dass der Flüchtlingsberater beteuerte, Singh habe sich ohnehin schon entschlossen, nach Indien zurückzukehren. Strafe musste sein. Rehabilitation sieht anders aus.
Die Rückkehr nach Indien verzögerte sich, erstens durch die zwei Monate Haft, zweitens durch die Probleme, die wieder aufflammten, als die medikamentöse Einstellung in Haft aus den Fugen geriet. Singh wanderte vom Gefängnis direkt zurück in die Psychiatrie.
Danach wollte er nur noch eines: zurück nach Indien. Wer ein Bild von ihm anschaut, sieht einen Mann, erst 37 Jahre alt, aufgequollen, resigniert, krank - gebrochen. Keine Fluggesellschaft wollte ihn mitnehmen. Zwar ist Singh eher ängstlich als aggressiv, doch so etwas könnte während eines Langstreckenflugs umschlagen. Schließlich erklärte sich Air India bereit, forderte aber anfangs einen Arzt als Begleiter. Singh weigerte sich. Der einzige, dem er vertraute, war ein andere Inder: Indra Jani, der Flüchtlingsberater der Caritas in der Flak-Kaserne.
Jani stammt aus der indischen Minderheit in Tansania, studierte Maschinenbau. Als die Firma, für die er arbeitete, enteignet wurde, während er in Deutschland tätig war, blieb er hier und sattelte auf seinen Traumberuf um: Sozialpädagoge. Sein Studium finanzierte er selber; danach war er in verschiedenen Städten in der Aussiedler- und Flüchtlingsberatung, seit zwei Jahren in Augsburg. „Die Menschen sehen, dass ich nicht aus Deutschland bin, das schafft sofort Vertrauen“, sagt er. Außerdem spricht er Sprachen, die verbinden - etwa Kisuaheli, Hindi und Englisch.
Er brachte Singh zurück in den Punjab. Am Flughafen nahm ihn seine Familie in Empfang. Die kleinen Kinder sind inzwischen Teenager. Die Tante musste sie ihrem Vater vorstellen. 1000 Euro brachte er als Stargeld der Rückkehrberatung mit. Indra Jani übergab die Summe Singhs Mutter. Die wird davon und von weiteren kleinen Raten die Schulden der Familie bezahlen.
Verschuldet beim Saatgut-Konzern
Denn wie viele Kleinbauern in Indien waren die Singhs hochverschuldet. Der Grund dafür ist genmanipuliertes Saatgut, dass nicht vermehrungsfähig ist. Internationale Großkonzerte verdrängen gezielt andere Anbieter und verkaufen die Samen zu überhöhten Preisen. Das trieb viele Bauern in den Ruin. 200 000 bis 300 000 begingen deshalb sogar Selbstmord.
Den Singhs geht es wieder besser. Jani brachte Medikamente mit, sprach mit Ärzten vor Ort. Das war im März. Ab und an hört er noch von der Familie. Viel kann Singh nicht tun. Er sitzt da, macht wegen des Alkoholtabus im Punjab eine Art kalten Entzug durch. Doch irgendwann, so hoffen alle, kann er vielleicht kleine Aufgaben im Haus übernehmen. Und die elf Jahre in Deutschland vergessen.
Resolution Die Grünen haben den Stadtrat aufgefordert, eine Resolution für menschenwürdige Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge in Augsburg abzugeben. Der Sozialausschuss behandelt das Thema am Mittwoch, 23. Juni (14.30 Uhr, Sitzungszimmer im Rathaus).
Von Ute Krogull
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