junge Welt, 02.03.2012
»Chance zur Integration wird nicht gewährt«
Bayern will Flüchtlinge nach Afghanistan abschieben, obwohl sie dort von Hunger und Tod bedroht sind. Ein Gespräch mit Markus Geisel.
Markus Geisel ist Mitarbeiter des Flüchtlingsrats Bayern. Er unterstützt in der Münchner Bayernkaserne untergebrachte afghanische Jugendliche.
junge Welt: Weil das Bayerische Innenministerium die Ausländerbehörden auffordert, mit Abschiebungen nach Afghanistan zu beginnen, ruft der Bayerische Flüchtlingsrat für Samstag zu einer landesweiten Demo in München auf. Sie fordern Abschiebestopp – warum ist es unzumutbar, Flüchtlinge unter Zwang dorthin zurückzuschicken?
Geisel: Das in Afghanistan vertretene Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) macht deutlich, daß das Rückkehrprogramm für Flüchtlinge nach Afghanistan ein großer Fehler ist. Selbst in der Hauptstadt Kabul ist es schon zu zivilen Opfern gekommen. Seit 2007 hat sich deren Anzahl fast verdoppelt: 3 021 tote Zivilisten wurden 2011 dokumentiert, die Dunkelziffer liegt höher.
Nachdem jetzt US-Soldaten Exemplare des Korans verbrannt haben, ist es in den vergangenen Tagen in Afghanistan noch unsicherer geworden. Deutschland hat seine Mitarbeiter der »International Security Assistance Force« (Internationale Sicherheits-Unterstützungstruppe, ISAF) aus Kabul und dem Umland abgezogen. Vor diesem Hintergrund ist es als zynisch zu bezeichnen, wenn afghanische Flüchtlinge aus Bayern dorthin abgeschoben werden sollen – nach unserer Einschätzung sind es mehrere hundert, die durch die Pläne des Innenministeriums gefährdet sind. Ein 17jähriger afghanischer Flüchtling sagte zu mir:»Wenn man dort morgens sein Haus verläßt, ist es nicht sicher, ob man abends zur Familie zurückkehrt«.
Wie begründet das Innenministerium diese Offensive gegen afghanische Flüchtlinge?
Man bezieht sich auf einen Beschluß der Innenministerkonferenz aus dem Jahre 2005. Es ist davon auszugehen, daß diese Abschiebungen auch mit dem geplanten Abzug der Bundeswehr zusammenhängen. Offenbar sieht es die Bundesregierung als schwer vertretbar an, einerseits Truppen abzuziehen und andererseits Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Sie will wohl signalisieren, daß sich die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert hat – die Flüchtlinge aber sind die Leidtragenden.
Was erwartet sie, wenn sie dorthin abgeschoben werden?
Das UNHCR ist äußert besorgt: Das Land ist bereits mit der Rückkehr von Flüchtlingen aus dem Iran und Pakistan überfordert. Rückkehrer sind meist obdachlos oder leben in Slums. Allein in Kabul vegetieren 35000 Flüchtlinge in Zeltlagern und Notbehausungen. Ihre Wiedereingliederung ist so gut wie gescheitert, die medizinische Versorgung ist katastrophal. Drei Millionen Afghanen sind nach Prognosen der UN vom Hunger bedroht. Die zentrale Rückkehrberatung teilt mit: Sogenannte »freiwillige« Rückkehrer können mit den 750 Euro, die sie für ihre Bereitschaft erhalten, maximal zwei Monate überleben.
Warum setzen Sie sich besonders für den 21jährigen Ismail Afzali ein, der vor drei Jahren nach Deutschland floh?
An seinem Fall wird beispielhaft deutlich, daß keine Integration gewollt ist und die Chance dazu auch nicht gewährt wird. In Passau lernte er Deutsch, engagierte sich ehrenamtlich und fand Freunde. 2011 hatte er einen Arbeitsplatz in München gefunden; konnte aber die Arbeit nicht aufnehmen, weil seine Abschiebung eingeleitet wurde. Erst nach breiten Protesten wurde sie wieder ausgesetzt. Als Anfang 2012 deutlich wurde, daß ein zweiter Abschiebeversuch ansteht, tauchte Ismail unter. Am Freitag wurde er von der Polizei aufgegriffen und sofort wieder in Abschiebehaft genommen.
Welche Parteien im bayerischen Landtag setzen sich für die Flüchtlinge ein?
Bisher nur die Grünen – auch deshalb haben die jungen Afghanen eine Kampagne gestartet, zu der auch die Demo am Samstag gehört. So wollen auch andere politische Parteien wie die SPD über ihre Situation informieren. Viele von ihnen haben mittlerweile Schlafstörungen, leiden unter Alpträumen.
Demo für Abschiebestopp von afghanischen Flüchtlingen, Samstag, 13.45 Uhr , Karlsplatz/Stachus, München
Interview: Gitta Düperthal
Quelle: junge Welt