Landshuter Zeitung, 21.06.2012

Auf der Flucht getrennt, in Landshut vereint

Zusammenführung noch unvollständig: Afghanische Mutter und Kinder warten auf Vater

 

Zwei Jahre ist die fünfköpfige Familie Ghafari aus Afghanistan auf der Flucht durch Osteuropa gewesen. Auf ihrem abenteuerlichen Weg wurden sie getrennt. Der älteste Sohn Ali schaffte es bis nach Landshut. Durch Vermittlung des Bayerischen Flüchtlingsrats konnten seine Mutter, sein jüngerer Bruder und seine Schwester nach Landshut nachkommen. Alle vier wohnen derzeit in der Asylbewerberunterkunft in der ehemaligen Kaserne und warten auf Vater Mohammed Rasul, der in den Niederlanden auf die Entscheidung über seinen Asylantrag wartet. Der Landshuter Zeitung erzählten sie ihre Geschichte.

Die Fluchtgeschichte seiner Familie kommt Ali leise und unaufgeregt über die Lippen. Er wohnt bereits seit Februar 2011 in der Asylbewerberunterkunft. Zweimal pro Woche besucht er einen Deutschkurs und kann sich mittlerweile ganz gut verständigen. Geboren sind er und sein 15-jähriger Bruder Morteza und seine siebenjährige Schwester Mohaddesse im Iran. Vor den Wirren des Krieges in Afghanistan waren die Eltern Anfang der 1980er Jahre in den Iran übergesiedelt, hatten dort das darauffolgende Taliban-Regime und die Bombardements zur Auslieferung Osama bin Ladens überlebt. Auch wenn die Familie keine Pässe und kein Aufenthaltsrecht hatte, sondern nur geduldet wurde, konnte der Vater in einem Sicherheitsdienst arbeiten und die Kinder die Schule besuchen. Vor drei Jahren gingen die Ghafaris in ihre Heimat, in die nördliche Provinz Baghlan nach Afghanistan, wo sie ein Haus und Felder hatten. "Ich wollte im Iran bleiben, aber mein Vater sagte: ,Wir haben in Afghanistan alles. Warum sollen wir hier bleiben?'"

Zu Fuß in die Türkei

Die Vorstellung des Vaters war ein Trugschluss. Nur ein dreiviertel Jahr lebte die Familie in Afghanistan. Dann gewannen die Taliban wieder die Vorherrschaft in der Provinz. "Sie wollten mich und meinen Bruder als Kämpfer einziehen." Als der Vater einen Taliban, der ein Attentat plante, bei der Polizei anzeigte, sann der auf Rache. Aus Angst floh die Familie in den Iran. Doch auch dort hatten sie keine Perspektive. "Unsere Dokumente hatten wir vor unserer Ausreise nach Afghanistan abgegeben. Wieder im Iran bekamen wir keine Aufenthaltsgestattung mehr."

13 Stunden flüchtete die Familie zu Fuß über die Berge in die Türkei, dann weiter nach Griechenland. "Immer nachts, um nicht entdeckt zu werden." Schließlich gelangten die Ghafaris nach Athen. Alis Mutter ist zuckerkrank, bekam in Athen keine medikamentöse Versorgung. "Griechenland hat kein geordnetes Asylsystem. Deshalb wenden viele europäische Staaten die Dublin-II-Verordnung auf Griechenland nicht an", sagt der auf Asylrecht spezialisierte Anwalt der Familie Ghafari, Robert Heinhold.

60 Stunden unterwegs

Weil kein Schleuser fünf Flüchtlinge auf einmal mitnehmen wollte und das Geld für alle nicht reichte, trennte sich die Familie. Ali gelang mit einem Schleuser für 4500 Euro in einem Lastwagen die Flucht nach Deutschland. "Nach 60 Stunden warf mich der Fahrer auf der Straße raus. Ich wusste gar nicht, wo ich war." Ali ging auf die nächste Polizeistation, erfuhr, dass er in Deutschland war, und gelangte schließlich über München nach Landshut in die Asylbewerberunterkunft.

Mutter Rosama und die jüngeren beiden Kinder gelangten mit Schleusern über Mazedonien und Serbien nach Ungarn. 5000 Euro bezahlte der Vater dafür. Woher das Geld kam? "Wir hatten unser Haus und die Felder in Afghanistan verkauft." Der Vater kam mit einem Schiff von Griechenland nach Italien und gelangte dann in die Niederlande. Weil die ungarischen Behörden Rosama, Morteza und Mohaddesse in einem Abschiebezentrum unterbrachten und ihnen mit der Abschiebung nach Serbien drohten, machten sich die drei auf den Weg zu Ali nach Deutschland. Dabei wurden auch sie von den Schleusern getrennt. Morteza kam nach Österreich, Rosama und ihrer Tochter gelang die Flucht nach Deutschland.

Dass Jugendliche auf der Flucht allein unterwegs sind, sei nichts Ungewöhnliches. "In Griechenland waren neunjährige Kinder ohne ihre Eltern auf der Flucht", sagt Ali. Als Rosama und ihre Tochter bei der Polizei in Irschenberg asylrechtlichen Schutz suchten, wurden sie in Ersatzabschiebehaft in eine Pension nach Rosenheim gebracht. "Wegen der kleinen Tochter wurde auf eine Inhaftierung im Gefängnis verzichtet und Frau Ghafari und Mohadesse in einer Pension untergebracht", sagt Heinhold. Lange Zeit war es ungewiss, ob die Familie aufgrund der Dublin-II-Verordnung wieder nach Ungarn abgeschoben würde. Durch den Einsatz des Bayerischen Flüchtlingsrates und des Initiativkreises Migration Rosenheim konnte das verhindert werden. Durch eine Petition im Bundestag konnte Rosama Ghafari in Deutschland Asyl beantragen. Im März kam sie in Landshut bei ihrem ältesten Sohn an. Im Mai stieß dann Morteza dazu.

Leben auf engstem Raum

Auf rund 20 Quadratmetern lebt Rosama Ghafari mit ihren Kindern in der ehemaligen Kaserne. In einem Raum sind die Habseligkeiten deponiert, im anderen vier Matratzen zum Schlafen. Bislang wurden die Asylanträge nicht anerkannt. Mutter Rosana erhält die nötige medizinische Hilfe: Insulinspritzen für ihre Diabetes und neurologische Medikamente gegen ihre Panikattacken. Morteza und Mohadesse besuchen die Mittel- und Grundschule. Ali spricht am besten Deutsch, doch solange er kein Asylrecht besitzt, kann er nicht studieren oder eine Ausbildung machen. Für Ablenkung wie einen Kinobesuch reichen die 40 Euro Taschengeld monatlich, die der Freistaat zusätzlich zu Essenspaketen und Gutscheinen für Kleider- und Hygieneartikel bezahlt, nicht aus. Morteza ist froh, in Deutschland zu sein, auch wenn er sich nur bruchstückhaft auf Deutsch ausdrücken kann.

Ali erinnert sich mit Wehmut an die Zeiten im Iran zurück, auch wenn er als Afghane keinen Pass hatte und trotz Hochschulreife nicht studieren durfte. "Jeden Nachmittag nach der Schule habe ich mich mit Freunden getroffen, habe Taekwondo gelernt und einen Englischkurs besucht. Jetzt sitze ich den ganzen Tag hier herum, sehe fern oder lese." Zum ersten Mal während des einstündigen Gesprächs wird seine Stimme brüchig. Wer Ali und Morteza nach ihrer Heimat fragt, bekommt ein ratloses Schulterzucken. "Vielleicht Iran", murmelt Ali. Rosama mischt sich ein. Die Jungen sollen doch bitte Afghanistan sagen. Auch wenn sie nur ein paar Monate dort gelebt haben. Rosama, die auf der Flucht nicht nur durch die zwei Verhaftungen viel durchmachen musste, hat sich ihr Leben in Deutschland einfacher vorgestellt. Nach ihren Zukunftswünschen befragt, übersetzt Ali: "Gesundheit und dass meine Kinder hier aus ihrem Leben etwas machen können."

Von Alexandra Beck

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