Mainpost, 08.06.2012

Asylpolitik im Visier: Hungern und schweigen


Das Schweigen begann mit acht Stichen. Acht präzisen Stichen, die sich schmerzhaft durch die Haut bohrten. Dunkelblaue Operationsfäden sind zu sehen. Einer auf der linken Seite des Mundes, einer auf der rechten. Sie halten die Lippen geschlossen. Selbst wenn die Männer etwas sagen wollten – so richtig könnten sie es nicht. Aber sie wollen sowieso nicht. Nicht mehr.

Erst waren es zwei iranische Asylbewerber, die sich in Würzburg den Mund zugenäht haben. Inzwischen wollen vier Männer mit Schweigen und Hungern erzwingen, dass alle in Würzburg streikenden Asylbewerber als politische Flüchtlinge anerkannt werden. Und dass sich die deutsche Asylpolitik ändert. Dass Gemeinschaftsunterkünfte und Essenspakete abgeschafft werden, die Residenzpflicht aufgehoben wird und sich die Antragsbearbeitung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich verkürzt. Insgesamt zehn Forderungen haben sie zusammengestellt.

Auf den Pavillon am Dominikanerplatz hämmert der Juniregen nieder. Drinnen ist die Lage ernst. Ein paar Männer sitzen um einen Laptop. Andere starren vor sich hin.

An die zehn Mann – Iraner und deutsche Helfer – haben im Herzen von Würzburg ihre Schaltzentrale eingerichtet. Von der aus managen sie den Streik, der sich bald auf andere deutsche Städte ausweiten soll. Ein paar Stühle, drei Stahlbetten, ein Tisch mit Pressemitteilungen und Unterschriftenliste. Viel mehr gibt es im Pavillon nicht. Es riecht nach verbrauchter Luft. Nach Zigaretten und Frust. Der Protest am Dominikanerplatz hat eine neue Härte angenommen. Eine, die wehtut.

Die Streikenden sind verstummt. Draußen sind kritische Stimmen zu hören – von Bürgern und Politikern. Von deutschen Unterstützern. Und schließlich die Stimmen derjenigen, von denen man es vielleicht am wenigsten erwarten würden – die anderer Asylbewerber, die in der Gemeinschaftsunterkunft (GU) am Rand der Stadt leben.
„Sie müssen damit aufhören. Was soll als Nächstes kommen?“

Hesam Kamali, iranischer Asylbewerber, über die zugenähten Münder

Das ehemalige Kasernengelände, auf dem die GU untergebracht ist, hat bessere Tage hinter sich. Hier und da ist der Betonboden aufgeplatzt, Zäune rosten vor sich hin, Gebäude sind verblasst. Auf dem Gehweg vor einem der Häuser, in denen die Asylbewerber leben, steht Hesam Kamali. Er ist einer der knapp 60 Iraner, die derzeit in der GU wohnen. Sein Leben hier sei hart, sagt er. Trotzdem: „Ich stimme mit den Streikenden nicht überein“, sagt er in flüssigem Englisch. „Wenn du deinen Körper verletzt und deinen Mund zunähst, werden dich die Menschen in der Stadt nicht mehr unterstützen.“ Schrecklich sei das, was seine Landsleute in der Altstadt da machen. Was soll als Nächstes kommen? „They need to stop it.“ – „Sie müssen damit aufhören.“

Kamali stößt die schwere Tür zu seinem Gemeinschaftshaus auf. Zwei Treppen geht es nach oben. Auf einem langen Gang – vielleicht 20 oder 30 Meter – stehen zwei weitere Landsmänner. Zum Reden ziehen sich die Iraner in ein Zimmer zurück. Einer, der nicht mit dem Namen genannt werden möchte, schüttelt ebenso den Kopf über die Hungerstreikenden wie Kamali. „Am Anfang dachte ich ja, es ist richtig, seine Meinung zu sagen,“ erzählt er auf Deutsch. „Aber den Hungerstreik finde ich nicht gut.“ Deutschland sei ein demokratisches Land, in dem man doch miteinander reden könne. Er selbst sei auch schon eine Weile hier, aber demonstrieren? „Das ist nicht mein Charakter. Ich bin in Deutschland ein Gast. Nur zu fordern ist keine gute Lösung.“

10 595 Asylbewerber gibt es derzeit in Bayern. Das teilt der bayerische Landtagspolitiker Hans Jürgen Fahn (Freie Wähler) mit Berufung auf die bayerische Staatsregierung mit. In der Würzburger GU sind es derzeit etwa 450 Bewohner, berichtet Leiter Armin Sauermann. Im Schnitt seien die Asylbewerber zwei bis dreieinhalb Jahre in der GU, Familien oft länger.

Sauermann selbst verteidigt die bayerische Asylpolitik. Erklärt, wie schwierig es oft sei, die Identität eines Asylbewerbers festzustellen. Wie langwierig sich die Anerkennungsverfahren hinziehen können. „Wir sind keine Unmenschen“, sagt er. Dass der Streik der iranischen Asylbewerber auch bei ihm Spuren hinterlassen hat, ist kaum zu übersehen. Die Argumente sprudeln aus ihm nur so hervor. Er breitet Papiere aus, die die Zimmeraufteilung der Asylbewerber erklären. Einen Wochenplan mit allen angebotenen Deutschkursen – etwa 30 Stunden insgesamt. Eine Auflistung aller Dienststellen und Einrichtungen auf dem GU-Gelände. Und der Zahl der Ehrenamtlichen – 200, fast halb so viele wie es Asylbewerber gibt. Was er über den Streik der Iraner denkt? „Der Schuss geht nach hinten los“, befürchtet er.

In der Fußgängerzone um den Dominikanerplatz herrscht ein großes Gewusel. Immer wieder kommen Passanten am Pavillon der Iraner vorbei. Einige drehen den Kopf kurz zur Seite und schauen hin. Andere bleiben auch stehen. Von den Fotos, die an den Wänden kleben, blickt ein blutüberströmtes Gesicht herunter, daneben Menschen mit Knüppeln, ein Mann am Galgen. Fäuste. Feuer. Gewalt. Angeblich Bilder aus dem Iran. Auf der anderen Seite Porträtfotos der Männer mit den zugenähten Mündern.

„Warum kann man das nicht auf andere Weise klären?“, fragt Helmut Ecker aus Würzburg, der am Pavillon vorbeigelaufen ist. „Wenn ich irgendwo Gast bin, muss ich die Regeln befolgen.“ Maria Apfel bleibt länger am Pavillon stehen. „Ich finde den Hungerstreik in Ordnung“, sagt sie. Solidarität sei in dieser Situation wichtig.

Rechtsanwalt Michael Koch, spezialisiert auf Asylrecht und Vorsitzender des Freundeskreises für ausländische Flüchtlinge in Unterfranken, macht sich Sorgen. „Die Eskalation, die da betrieben wird, stellt für mich eine Spirale dar, von der ich nicht weiß, wie die Streikenden da wieder herauskommen“, sagt er am Telefon. „Bei allem Verständnis, das ich für sie und ihre allgemeinen Forderungen aufbringe – das kann man nicht auf diese Weise erzwingen. So macht man das kaputt, was wir an Sympathie in der Bevölkerung erreicht haben.“ Grünen-Stadtrat Patrick Friedl sieht die zugenähten Münder ähnlich kritisch: „Es schockiert uns mehr, als dass wir sehen, dass es helfen könnte“, sagt er. Eva Peteler, Ehrenamtliche in der Würzburger GU, indes verteidigt die Streikenden. „Es ist ein Aufschrei der Seele, die keine Alternative sieht“, sagt sie. Sie hoffe, dass das Problem friedlich gelöst werden könne.

Zwei Tage später. Es ist der 83. Tag des Streiks. Von den vier Männern musste inzwischen einer ins Krankenhaus eingeliefert werden. Seine einzige Niere sei krank, heißt es. Ein anderer hat sich Wundsalbe rund um die entzündeten Einstichstellen am unteren Mundwinkel geschmiert. Ein Mundschutz baumelt ihm um den Hals. Ab und zu quillt ein knochentrockener Husten aus seiner Kehle. „Wenn wir als politische Flüchtlinge anerkannt werden, werden wir unsere Lippen öffnen“, sagt sein Landsmann Abdolbaset Soleimani. „Aber wir demonstrieren weiter, bis wir unsere Ziele erreicht haben.“

Julia Knetzger

Quelle: Mainpost

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