Reuters, 20.06.2012
Asylbewerber-Leistungen müssen wohl neu berechnet werden
Das Bundesverfassungsgericht wird höchstwahrscheinlich eine Neuberechnung der seit 19 Jahren unverändert gebliebenen Leistungen für Asylbewerber und Flüchtlinge verlangen.
Das deutete sich am Mittwoch in der mündlichen Verhandlung des ersten Senats in Karlsruhe an. Es sei auffällig, dass die Sätze seit 1993 nicht gestiegen seien, obwohl der Gesetzgeber bei Bedarf zur Anpassung verpflichtet sei, sagte etwa der Vorsitzende Richter Ferdinand Kirchhof. Das Gericht prüft, ob die Leistungen für die etwa 130.000 Asylbewerber und Flüchtlinge das menschenwürdige Existenzminimum decken. Arbeitsstaatssekretärin Annette Niederfranke erklärte für die Bundesregierung, man arbeite an einer Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes. Sie könne aber nicht sagen, wann dies abgeschlossen sei.
Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum wurde vom Verfassungsgericht erstmals im Jahr 2010 formuliert, als es eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze verlangte. Die Leistungen für Asylbewerber müssten sich daran messen lassen und darüber hinaus transparent, realitätsgerecht und nachvollziehbar sein, sagte Kirchhof. Der Senat verhandelt über eine Vorlage des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen, dem die Klage eines irakischen Kurden und die einer mittlerweile eingebürgerten minderjährigen Tochter einer seit 14 Jahren in Deutschland lebenden Nigerianerin vorliegen.
RICHTER KRITISIEREN BUNDESREGIERUNG DEUTLICH
Ungewöhnlich deutlich kritisierten die Richter die Bundesregierung. Ob in den vergangenen 19 Jahren bei der Anpassung der Sätze nicht wenigstens Zwischenlösungen möglich gewesen seien, fragte etwa Richter Reinhard Gaier. Seine Kollegin Gabriele Britz fragte, wie der angeblich nur vorübergehende Aufenthalt der Flüchtlinge in Deutschland niedrigere Leistungen rechtfertigte. Berichterstatterin Susanne Baer merkte an, zwei Drittel der Betroffenen seien bereits seit über sechs Jahren und damit kaum noch vorübergehend in Deutschland. Auch ein Verweis der Bundesregierung auf EU-Länder mit niedrigen Sätzen überzeugte die Richter nicht.
Asylbewerber und Flüchtlinge bekommen neben Sachleistungen wie Lebensmittel auch Geld. Nach vier Jahren erhalten sie höhere Leistungen. Den Umfang der Sätze legt der Bund fest, die Verteilung ist Ländersache. Erhöhungen der noch in D-Mark im Gesetz festgeschrieben Leistungen scheiterten mehrfach am Widerstand der Länder, wie das Gericht feststellte.
Staatssekretärin Niederfranke sagte, eine Reform sei schwierig. Denn es gebe keine zuverlässigen Daten für eine sachgerechte Bemessung. Jedes Bundesland handhabe die Verteilung der Sach- und Geldleistungen anders. Das Bildungs- und Teilhabepaket für sozial schwache Familien werde jedoch auf jeden Fall auf Asylsuchende übertragen.
Die rheinland-pfälzische Familienstaatssekretärin Margit Gottstein (Grüne), kritisierte, das Gesetz sei schon wegen der Benachteiligung von Flüchtlingskindern verfassungswidrig.
Nach Darstellung der Organisation Pro Asyl bekommt ein Asylbewerber 40 Prozent weniger Leistungen als ein Hartz-IV-Empfänger. Richter Kirchhof sagte, das steche ins Auge. Seine Kollegin Baer verwies darauf, dass sich das allgemeine Preisniveau seit 1993 um mehr als 30 Prozent erhöht habe. Das Grundgesetz schütze aber nicht nur das nackte Leben, sondern auch das soziokulturelle Leben. Das Grundrecht der Menschenwürde gelte zudem nicht nur für Deutsche.
Quelle: Reuters Deutschland