Neues Deutschland, 06.07.2012

Armins Traum

Sie essen nichts und nähen sich sogar die Lippen zu - seit über 100 Tagen kämpfen Iraner in Würzburg für ihr Recht auf Asyl

Protest im Zelt: Armin Jahanizadeh (rechts) traf mit Dawood (daneben) in Deutschland einen alten Freund, der ihm Mut macht. Foto: Jana Desch


Hier begehrten schon Kernkraftgegner auf. Gewerkschafter protestierten gegen unfaire Löhne. Tierschützer zogen über den Marktplatz, um auf Tierversuche an der Uni aufmerksam zu machen. Doch kein Protest war bisher so radikal wie jener, den iranische Flüchtlinge in Würzburgs Innenstadt organisieren. Sie stammen aus unterschiedlichen Flüchtlingsheimen in Bayern. Sie weigern sich zu essen. Und sie nähen sich sogar die Münder zu.

In einem Zelt auf dem Würzburger Marktplatz sitzt Mohammad Hassanzadeh Kalali und wartet. Links vom Zelteingang befindet sich eine Bäckerei. Zur Mittagszeit ist der Andrang groß: Belegte Brötchen, Kuchen und kalte Getränke werden verkauft. Rechts der kleine »Häckerbrunnen« des berühmten Lokalkünstlers Richard Rother - ein Weinbauer, die Hacke geschultert, lächelt verschmitzt von oben auf die Menschen herab. Im Fünf-Minuten-Takt stoppen Straßenbahnen in unmittelbarer Nähe des Protestzeltes an der Haltestelle »Dom«. Manche Würzburger kommentieren den Protest der Iraner. Nicht immer freundlich. Doch die meisten haben sich nach über 100 Tagen an den Anblick des Zeltes, an den der dunkelhäutigen Männer, die teils brutalen Fotografien und die Appelle an den Außenwänden gewöhnt. Es ist, als würde das Camp inzwischen zum Stadtbild gehören.

Kalali isst nicht mehr. In der letzten Woche hat er sogar fast 48 Stunden lang nicht einen Tropfen Wasser getrunken. Der 33 Jahre alte Flüchtling, Aktennummer 5486944, wollte mit dieser Zuspitzung sein Asylverfahren vorantreiben. Eigentlich müsste er in einem Flüchtlingsheim in der Oberpfalz darauf warten. Nach zwei Tagen stellte das Regensburger Verwaltungsgericht beim Auswärtigen Amt eine Auskunftsanfrage. Doch das Warten ist nicht zu Ende.

»Ich habe in Mashhad Propagandamaterial gegen den Islam verteilt«, sagt Kalali im Protestzelt auf Persisch. Den Mund nur wenig geöffnet - er ist zugenäht. Auf die Entfernung sieht man die dünnen blauen Fäden kaum. Nur wer ihm ganz nahe kommt, kann sie erkennen. Immer wieder betreten Menschen das Zelt. Eine ältere Frau bringt eine Banane, drückt sie Kalali in die Hand, ungeachtet dessen, dass er nichts isst. Nebst einer Schachtel Duplo: »Das verteilst du dann an die anderen, ja?«, sagt sie eifrig. Kalali nickt höflich. Legt die Schokolade auf einen hölzernen Hocker. Hin und wieder bleibt jemand vor dem Zelt stehen. Greift sich einen Zettel vom Infostand oder sieht sich die Zeltwände an. Groß prangt dort Artikel 3 des Grundgesetzes, der Antidiskriminierungssatz. Daneben ist die Polizei postiert. Auch das inzwischen ein vertrauter Anblick: Polizisten in Streifenwagen oder Transportern, die ein Auge auf die Iraner haben.

Kommunist sei er und Atheist, erzählt Kalali und sein Landsmann Armin Jahanizadeh übersetzt. Kalali wollte für die Freiheit kämpfen. Und gegen eine Religion, die alles bis in das Privateste hinein rigide regelt. Das brachte ihn in Lebensgefahr. 2008 floh er.

Machtlosigkeit. Dieses Gefühl beherrscht die Flüchtlinge, in dem harmlos Gemeinschaftsunterkunft genannten Lager in Würzburg. Trostlos ist es in diesem vor rund 80 Jahren entstandenen Bau, der auch mal »Adolf-Hitler-Kaserne« hieß: »60 Prozent aller Iraner dort brauchen Psychopharmaka«, erzählt Jahanizadeh. Manchen hilft auch das nicht. Der ehemalige Polizist Mohammas Rahsepar, der Befehle verweigerte, deshalb gefoltert wurde und dann nach Deutschland floh, ertrug die Ungewissheit nicht mehr. In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar dieses Jahres erhängte sich der 30-Jährige in der Unterkunft. Er wohnte im Zimmer über Armin Jahanizadeh.

Einige junge Leute aus Würzburg haben sich inzwischen mit den Flüchtlingen angefreundet. Wann immer sie Zeit haben, schauen sie vorbei. Bringen denen, die nicht auf Nahrung verzichten, etwas zu essen mit. Erzählen. In diesen Momenten sieht es entspannt aus im Zelt. Als wäre man im Feriencamp. Eine junge Frau lacht und sagt scherzhaft etwas zu einem Iraner: »Hey, du willst doch, dass ich wiederkomme?« Der legt den Arm um sie, drückt sie und lächelt zurück.

Kalali verlässt der Mut nicht. In Iran drohte ihm wegen seiner politischen Arbeit die Todesstrafe. Die Gefahr war ihm bekannt. Er sei sich über die Konsequenzen seines Handelns stets bewusst, lässt der Iraner, der mit Unterbrechungen seit fast zwei Monaten auf Nahrung verzichtet, übersetzen. Was genau passierte, als die Sache mit den Schriften gegen den Islam aufflog, will er nicht sagen: »Das ist Topsecret.« Auch nicht, wie groß die Gruppe war, mit der er in Masshad kämpfte: »Ich würde mit dieser Information andere in Gefahr bringen.« Es war eine kleine Gruppe, deutet er an. Einen Namen habe sie nicht gehabt.

Ein Pauschalurteil gegen den radikalen Protest der Iraner lautet: »Das ist Erpressung!« So soll sich auch Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer im Internet geäußert haben. Nach Protesten gegen diese Aussage wurde der Eintrag jedoch rasch wieder gelöscht. Das Argument selbst ist seither virulent. Viele Leser kommentieren Zeitungsberichte in diese Richtung. Unter der Überschrift »Die neuen Herren sind da!« schrieb neulich einer: »Es ist kein Erpressungsversuch, es ist geglückte Erpressung. Sie zeigen uns ihre Macht und wer hier die Regeln macht.«

Sie würden die Regeln machen? Absurd, findet Armin Jahanizadeh. Unmenschlich seien vielmehr die Regeln, denen Flüchtlinge in Deutschland unterworfen sind. Die Isoliertheit, der Zwang, das zu essen, was ins Essenspaket gesteckt wurde, das endlose Warten - all das zermürbt. »Wenn einer neu in die Asylbewerberunterkunft kommt, dann befragen Sie ihn doch mal am ersten Tag«, schlägt er vor. »Und dann fragen Sie ihn vier Wochen später.« Dann, sagt der junge Iraner, würden die ersten Spuren der Zermürbung schon deutlich sein. Dem 26-Jährigen ging es selbst vor einiger Zeit psychisch sehr schlecht: »Jetzt geht es mir besser. Denn ich habe hier alte Freunde wiedergefunden.« Die systematische Schlechterstellung von Flüchtlingen gegenüber anderen Menschen in diesem Land beinhaltet das Verbot, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu sichern. Auch Studieren ist tabu. Wer krank wird, bekommt weniger Hilfe als Einheimische.

Die Nerven fast aller im Protestzelt sind gespannt. Wie lange muss die Aktion noch weitergehen? Wann werden die Fälle von Mohammad Hassanzadeh Kalali, Arash Dosthossein, Armin Jahanizadeh und Soheil Hatamikia endlich bearbeitet? Der ehemalige iranische Student Hatamikia versucht, auch auf anderem Wege Druck zu machen. Er hat eine ePetition für die bessere Behandlung von Flüchtlingen gestartet. 1100 Unterstützer hat sie bislang. Nicht viel. Bei weniger spektakulären Aktionen lässt es sich offenbar leichter wegschauen.

Die Flüchtlinge hätten nie gedacht, dass sie über drei Monate lang auf Würzburgs Straßen für ihre Rechte protestieren müssen. Und auch nicht, dass es neben viel Unterstützung so viel Kritik und Unmut gibt. »Die Leute haben keine Ahnung, wie das ist, in der Gemeinschaftsunterkunft zu leben«, schüttelt Armin Jahanizadeh den Kopf. Und was wissen sie davon, wie das ist, fliehen zu müssen? Jahanizadeh war in Iran in einem Bunker eingesperrt. Wie lange, kann er nicht sagen: »Es gab kein Licht. Ich wusste nicht, ob es Tag war oder Nacht.« Sie glauben weiter daran, dass sich die Bedingungen für Flüchtlinge verbessern lassen. Und sie glauben daran, dass radikaler Protest ein Weg ist, Unmenschlichkeiten etwas entgegenzusetzen.

Kalali gibt sich nach außen hin cool: »Ich weiß, dass ich hundertprozentig berechtigt bin, in Deutschland Asyl zu bekommen.« Auftrieb geben ihm jene Iraner, die es geschafft haben - sie sind anerkannt. Dawood, Armin Jahanizadehs alter Freund, zum Beispiel seit zwei Monaten. Sein neues Problem: Er findet keine Wohnung. Dawood übernachtet und isst bei einer Studentin, die sich in der Flüchtlingsunterkunft engagiert. Auch eigenes Geld hat er noch nicht. Selbst für die, die bleiben dürfen, bedeutet das Leben im deutschen Exil fast durchgängig einen Abstieg. In Teheran hatte Armin Jahanizadeh ein Bekleidungsgeschäft. Ob er hier wohl seinen Traum vom eigenen Laden wird erfüllen können?

Jana Desch

Quelle: Neues Deutschland

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