Mainpost, 05.05.2009
Gemeinschaftsunterkunft: Schlimme Kindheit im Lager
Würzburg - Bestandsaufnahme
Das Anwesen Würzburg, Veitshöchheimer Straße 100, hat keine Hausnummer an der Türe. Die Bewohner haben keine Briefkästen. Hier, in der Dürrbachau, in Würzburgs Stadtteil mit der schlechtesten Infrastruktur, in der ehemaligen Emery-Kaserne, umzäunt und mit Stacheldraht geschützt, steht die Gemeinschaftsunterkunft (GU) für Flüchtlinge. Zuständig vor Ort ist die Regierung von Unterfranken, verantwortlich ist das bayerische Sozialministerium.
Ein langer Flur. Männer stehen gelangweilt in offenen Türen. Hier kommt wer, dort geht wer, Tür auf, Tür zu, man plauscht, es hallt. Kinder tollen und lärmen. Irgendwo streiten sich Leute. Irgendwer lärmt im Bad. Irgendwer kocht. Hier ist immer was los, hier ist immer Krach, und alle kriegen es mit. Die Gemeinschaftsunterkunft schläft nie. Die Müden verzweifeln an den Wachen, die Stillen an den Lauten.
In der Gemeinschaftsunterkunft Würzburg leben 450 Flüchtlinge, unter ihnen etwa 70 Kinder, aus 35 Nationen, zusammengepfercht auf engem Raum, mit Gemeinschaftsküchen, -toiletten und -bädern. Sie sind mit unterschiedlichen Religionen aus unterschiedlichen Kulturen gekommen und unterscheiden sich in Sprache, Sitten und Gebräuchen. Sie haben sich diese Gemeinschaft nicht ausgesucht und leben doch schon jahrelang hier. So viel unfreiwilliges Multikulti in einer ehemaligen Kaserne ist schwer auszuhalten. Die Nerven liegen blank. In dieser unentrinnbaren Enge, im immerwährenden Geräusch, dreht öfter jemand durch. Gewalt gehört dazu.
Aus einem ärztlichen Attest über den Gesundheitszustand einer Roma, die in der Gemeinschaftsunterkunft lebt: Frau S. leide „unter starker Angst, Schlaflosigkeit, Albträumen, kann das Essen nicht bei sich behalten, erbricht, kommt in selbstentwertende Haltungen, schlägt und verletzt sich selbst in ihrer Verzweiflung“. Seit einem halben Jahr wartet sie auf einen Therapieplatz.
Jenny Dörnemann, eine Kinderärztin, die für die Missionsärztliche Klinik in der GU arbeitet, berichtet, hier würden traumatisierte Flüchtlinge retraumatisiert, „weil sie wieder auf Machtfaktoren stoßen. Sie gehen an Wachen vorbei, durch lange Gänge, Türen knallen. Da wird man nicht gesund.“ Dörnemanns Chef August Stich, der Vorsitzende des Missionsärztlichen Instituts, sagt: „Gemeinschaftsunterkünfte machen krank.“ Ursachen? Stich nennt unter anderem hygienische Missstände (zahlreiche Bewohner teilen sich Toilette und Bad), Lärmbelastung, die große Enge (bis zu fünf einander fremde Männer in einem Zimmer, 57 Quadratmeter Wohnraum für eine neunköpfige Familie) und die Kälte in den Räumen (viele Blasenentzündungen und Atemweginfekte). Viele Insassen leiden Stich zufolge unter depressiven Erkrankungen.
Manche Kinder sind in die GU hineingeboren, einige verbringen hier die längste Zeit ihrer Kindheit. Sie dürfen zwar den Kindergarten oder die Schule besuchen. Aber sie finden keine konzentrierte Umgebung zum Hausaufgaben machen und können kaum Freunde mit nach Hause bringen. Sie leben in einer verkleinerten Welt, dürfen wie ihre Eltern die Stadt nicht verlassen, bekommen die Eruptionen von Gewalt in der GU hautnah mit und erlernen Gewalt als Überlebensstrategie. Und immer wieder, so das Missio, werden Kinder Opfer von sexualisierten Übergriffen und anderer Gewalt. Eva-Peter vom Ökumenischen Asyl-Arbeitskreis berichtet von Kindern, die zusammenzucken, wenn sie ein Martinshorn hören; sie fürchteten die Abschiebung. Peter fragt: „Wie können Kinder unter diesen Bedingungen Vertrauen entwickeln in die Zukunft? Das ist an der Grenze zur psychischen Tortur.“
Frau S., die Roma, die sich in ihrer Verzweiflung selbst verletzt, hat vier Kinder, die mit ihr in der GU wohnen. Das Missio diagnostiziert bei allen vieren vermehrte Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, Wurmbefall „und im Vergleich zu Kindern, die nicht in der GU leben, gehäufte Virusinfekte“. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni-Klinik stellte zudem fest: Gefühle und Sozialverhalten des zehnjährigen Sohnes seien gestört, als Folge gewalttätiger Konflikte in der GU. Auch seine drei Geschwister seien in physisch-psychischen Nöten, mit gestörter körperlicher und sprachlicher Entwicklung. Alle vier Kinder der kranken Frau S. besuchen einen Förderkindergarten oder die Förderschule.
Dem Würzburger Rechtsanwalt Michael Koch kommt die Contenance abhanden, wenn er über die Regierung von Unterfranken spricht. Sie agiere „wider besseres Wissen der Ärzte“. Da ist das Attest einer Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, betreffend vier der fünf Kinder der Flüchtlingsfamilie K., die auf 54 Quadratmetern in der GU in Kitzingen lebt. Die achtjährige Tochter kam mit Trisomie 21 (im Volksmund Mongolismus) auf die Welt; ihre Entwicklung sei gestört, sie sei anfällig für Infekte. Ihre drei- und einjährigen Geschwister leiden unter Asthma bronchiale. Die Ärztin befand im Juli des vergangenen Jahres: „Außer der räumlichen Enge ist die Wohnung kalt, feucht und von Schimmelpilz befallen.“ Sie halte die baldige Zuweisung einer größeren Wohnung „für dringend notwendig, um weitere Gesundheitsrisiken zu verhindern“.
Koch vertritt die Familie; er beantragte bei der Regierung ihren Umzug. Bald wurden wichtige Unterlagen vermisst; sie tauchten wieder auf, als Koch eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichte. Die Regierung stellte eine Genehmigung des Auszugs für den Fall in Aussicht, dass die siebenköpfige Familie ihren Unterhalt alleine aufbringt. Nach langem Hin und Her entdeckte die Behörde, dass sie gar nicht zuständig ist, sondern der Landkreis Kitzingen. Koch wandte sich an das dortige Landratsamt und traf wieder auf die Regierung. Nun teilte das Amt mit, dass die Regierung den Auszug erlaube, wenn die Familie auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verzichte. Diese Forderung nahm die Behörde mittlerweile zurück, von Koch konfrontiert mit einem einschlägigen Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.
Nicht ein Mal, so Koch, sei die Regierung während des Verfahrens auf die gesundheitliche Misere der Kinder eingegangen. Die Familie wohnt heute noch, mehr als neun Monate nach der dringenden Empfehlung der Ärztin, in der schimmlig-feuchten Wohnung. Für den Anwalt ist das „eine Körperverletzung“ – und kein Ausnahmefall. Er legt Gutachten von renommierten Fachärzten vor, etwa dem Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni-Klinik, die bei der Regierung auf taube Ohren stoßen.
Die Regierung, sagt ihr Sprecher Johannes Hardenacke, beziehe zu Einzelfällen keine Stellung. Wenn Gutachten von Fachärzten kommen, schalte sie einen Amtsarzt ein. Auf die Frage, warum die Regierung in harten Fällen nicht rasch im Sinne der kranken Kinder handle, antwortet Thomas Weingart, Sachgebietsleiter für Flüchtlingsbetreuung: „Wir vollziehen Recht und Gesetz.“
Frau S., die kranke Roma mit den vier Kindern, war immer wieder beteiligt an Streitereien. Neutrale Auskünfte darüber, ob sie Opfer oder Auslöserin war, gibt es nicht; wahrscheinlich war sie beides. Am 10. März eskalierte die Lage: Zwei männliche GU-Bewohner hatten ihren sechsjährigen Sohn und zwei weitere Kinder mit aufs Zimmer genommen und ihnen pornografische Filme gezeigt. Frau S. flippte aus. Fünf Tage später, am 15. April, bekam sie Post von der Regierung von Unterfranken. Sie habe mit ihren Kindern „spätestens“ am 16. April in die GU Eltmann, Ortsteil Dippach, einzuziehen. Begründung: keine. Was soll da mit ihren Kindern werden? Und mit der Therapie? Frau S. brach zusammen. Später begleitete sie ein Caritas-Mitarbeiter zum Verwaltungsgericht, eine Verwaltungsrichterin rief bei der Regierung an, die Regierung setzte die Versetzung aus. Vorläufig.
Regierungssprecher Hardenacke begründet die Aufforderung an Frau S., umzuziehen, mit den Auseinandersetzungen, die sie in der GU führte. Ihre Erkrankung sei der Regierung nicht bekannt gewesen. Die Kinder könnten ein sonderpädagogisches Förderzentrum in Haßfurt besuchen und einen Regelkindergarten in Eltmann.
Aber: Die Busfahrt der Kinder von Dippach nach Haßfurt dauert fahrplanmäßig eine knappe Stunde bis eindreiviertel Stunden, ein- bis viermal umsteigen inklusive, und kostet einfach bis zu 10 Euro. Frau S. hat ein monatliches Taschengeld von 40 Euro, jedes Kind bekommt 20 Euro.
Die Machtlosigkeit der Eltern, sagt Missio-Kinderärztin Dörnemann, zerstöre ihre Funktion als Vorbilder für ihre Kinder. Täglich erlebe der Nachwuchs, „dass nicht seine Eltern der Souverän des Familienlebens sind, sondern die Heimleitung“. Die Rolle der Eltern werde in der GU „systematisch geschwächt“.
Die Wohlfahrtsverbände in Bayern – AWO, Rotes Kreuz, Caritas, Paritätischer, Diakonie und Israelitische Kultusgemeinden, fordern in einer gemeinsamen Erklärung neue Standards für die Unterbringung der Flüchtlinge, unter anderem die Begrenzung der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften auf maximal ein Jahr. Diese zeitliche Befristung, schreiben sie, entspreche den „Empfehlungen für das Obdachlosenwesen“ der Staatsregierung. Da steht unter Punkt 5.2.1.1. der Satz: „Unterbringungen in Notunterkünften von über einem Jahr sollten nach Möglichkeit vermieden werden, weil sie die teuerste Lösung des Problems darstellen und zu vermehrten psychosozialen Problemen der Obdachlosen führen.“ Diese Erkenntnisse, meinen die Wohlfahrtsverbände, gälten auch für Flüchtlinge.
Familien, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern und alleinstehenden Frauen solle der Auszug aus Gemeinschaftsunterkünften „bevorzugt gestattet werden“. Ihre Begründung lässt darauf schließen, dass es überall ist wie in der Würzburger GU: „Das Familienleben spielt sich in der Regel in einem Raum ab. Es gibt weder für Eltern noch für Kinder einen ausreichenden Bewegungs-, Ruhe- und Rückzugsraum. Vor allem die Kinder leiden unter der ständigen Enge, der Reizüberflutung und unter Schlafstörungen. Dies hat negative Auswirkungen auf die schulischen Leistungen und die körperliche und psychische Entwicklung der Kinder.“