22.10.2003
Ein ganzes Leben im Flüchtlingslager?
Bayern: Keine Ausnahme von der Lagerunterbringung selbst bei humanitären Problemfällen / PRO ASYL: Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes
In Lager eingewiesen werden nicht nur Asylsuchende, sondern auch Personen, die langfristig geduldet werden und solche, die eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 Ausländergesetz besitzen. Zum Lageraufenthalt verpflichtet sind auch Ehegatten und minderjährige Kinder, die selbst diese Voraussetzungen nicht erfüllen. In der Praxis wenden die zuständigen Bezirksregierungen die Bestimmungen so an, dass jeder, der zum Personenkreis der Leistungsbezieher nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes gehört, in eine sogenannte Gemeinschaftsunterkunft eingewiesen wird. In großer Zahl ergehen in den letzten Monaten Umzugsaufforderungen. Den Angeschriebenen wird zugemutet, aus z.T. vor Jahren angemieteten Privatwohnungen oder kommunalen Unterkünften auszuziehen und in Sammelunterkünfte einzuziehen.
Selbst auf schwere Erkrankungen und andere humanitäre Belange wird keine Rücksicht genommen. Die bayerische Linie heißt: Praktisch jeder soll ins Lager. Nur wenige extreme Ausnahmefälle sind denkbar: Ärztlich attestierte Dauerpflegefälle, bei denen der öffentlichen Hand keine Mehrkosten entstehen oder Fälle, in denen Ausländer ihren Lebensunterhalt langfristig aus eigenen Mitteln finanzieren können. Wie lange die Betroffenen bereits in Deutschland leben, soll ebenso wenig eine Rolle spielen wie die Prognose, wie lange sie aufgrund ihres Status voraussichtlich noch bleiben können. Familiäre und soziale Bezüge werden gänzlich ignoriert.
PRO ASYL kritisiert die bayerische Praxis als eklatanten Verstoß gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes. Die Betroffenen werden praktisch unbegrenzt zum Objekt staatlicher „Fürsorge“. Sie werden durch die vorgeschriebene Lagerunterbringung inklusive aufgezwungener Sachleistungen entmündigt und ihrer Individualität beraubt.
Die Unterbringung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften war eingeführt worden als vorübergehende Maßnahme für die Dauer des Anerkennungsverfahrens. Die unerträgliche Konsequenz der bayerischen Behördenpraxis: Jemand kann gezwungen werden, sein ganzes Leben lang „vorübergehend“ in einer Flüchtlingsunterkunft zu leben. Der Besitz eines bestimmten Papiers, wie etwa einer Duldung, sagt nichts über die zu erwartende Dauer des Aufenthaltes. Viele Menschen sind seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, mit Duldungen im Bundesgebiet. In Bayern droht ihnen allerorten die dauerhafte Entwurzelung durch die Unterbringung im Lager. Die ursprünglich mit den Sachzwängen des Asylverfahrens begründete zeitweilige Unterbringung von Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften wird zur Dauerkasernierung einer viel größeren Personengruppe.
Im Windschatten des bayerischen Unterbringungsextremismus verschärft auch Niedersachsen seine Praxis. Nach einem Brief des niedersächsischen Innenministeriums ist dort die Zielvorstellung, alle Asylsuchenden während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in landeseigenen zentralen Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen. In der auf eine Kapazität von 550 Personen aufgestockten Landesaufnahmestelle Bramsche soll sogar eine Lageschule entstehen. Der Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V. hat dies bereits als menschenunwürdige und kinderfeindliche Ghettoisierung kritisiert.
Beispiel: Schwer krank – trotzdem ins Lager
Das afghanische Ehepaar A. lebt seit 1993 in Deutschland. Beide Ehepartner sind krank. Der Mann wird nach schweren Herzoperationen von Ärzten als Hochrisikopatient eingestuft und ist physisch und psychisch kaum belastbar. Auch Frau A. befindet sich in einer kontinuierlichen medikamentösen und physikalischen Therapie zur Behandlung eines chronischen Schmerzsyndroms. Beide sind aufgrund ihrer fortschreitenden Erkrankungen berufsunfähig. Aus diesen Gründen wurde ihnen 1995 die Unterbringung in einer Privatwohnung gestattet. Das Ehepaar hat seit 1997 die Rechtsstellung gem. § 53 Abs. 4 Ausländergesetz (Abschiebungsverbot aus Gründen der Europäischen Menschenrechtskonvention). Eine Abschiebung nach Afghanistan ist auf Dauer nicht zu erwarten. Dennoch wurden Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis wegen des Bezuges von Sozialhilfe abgelehnt. Die volljährigen Kinder beteiligen sich an der Betreuung des Ehepaares. Die Eheleute lebten bisher zusammen mit zwei Kindern, die ihren Mietanteil selbst tragen, in einer Wohnung. Durch die Lagereinweisung der Eltern verlieren auch die beiden Kinder die Wohnung, da sie für die Gesamtmiete der Wohnung nicht allein aufkommen können. Die anderen drei Kinder leben im selben Haus in einer anderen Wohnung. Von den fünf Kindern besitzen vier eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, eines eine Aufenthaltsbefugnis. Zweien ist die Einbürgerung zugesichert. Aus diesem einigermaßen funktionierenden Leben wird das Ehepaar herausgerissen – wegen 70 Euro Mehrkosten, die der öffentlichen Hand durch die Unterbringung in der Privatwohnung im Vergleich zum Lager entstehen.
Das Verwaltungsgericht München zeigte sich von der organisierten Unmenschlichkeit des geforderten Umzugs unbeeindruckt. Die bisherige Haushaltsgemeinschaft mit den volljährigen Kindern stelle keinen beachtlichen humanitären Grund dar, da die Betroffenen nicht zwingend auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen seien. In der vorgesehenen Unterkunft gebe es auch eine Betreuung durch die Caritas. Dass die Eltern wegen ihres Gesundheitszustandes, ihres Alters und des verfestigten Aufenthalts ihrer Kinder mit einer Aufenthaltsbeendigung nicht rechnen müssen, sei bloße Spekulation.