10.10.2002

Ausreisezentren - Offener Brief an Kirchen und Wohlfahrtsverbände in Bayern

Mit Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass sich eine Reihe von VertreterInnen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände in Bayern gegenüber der Errichtung von sogenannten Ausreiseeinrichtungen bisher nur mit zurückhaltender Kritik äußerten, die eine Kooperation kirchlicher Wohlfahrtsverbände bei der Umsetzung nicht ausschließt.

Wir Unterzeichnenden halten die Ausreiseeinrichtungen mit einer menschenwürdigen Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden für unvereinbar und sind weiter der Ansicht, dass eine soziale Beratung und Betreuung innerhalb des Konzepts Ausreiseeinrichtung den ethischen Grundsätzen der Sozialarbeit zuwiderläuft. Folgende Aspekte bringen uns zu dieser Einschätzung:

Die Erfahrungen in anderen Bundesländern mit Ausreiseeinrichtungen sind desaströs: in Nordrhein-Westfalen wurde nach dem Suizid eines Insassen und verschiedenen Skandalen das Lager wieder geschlossen. In Rheinland-Pfalz und Niedersachsen belegen die Statistiken, dass die staatlichen Ziele, nämlich die „freiwillige“ Ausreise der Insassen zu forcieren, trotz Ausübung massiven psychischen Drucks, nicht erreicht werden. Nur etwa 10% der Insassen konnten zur Ausreise gezwungen oder abgeschoben werden. Etwa 50 % der Insassen tauchten unter und vermehrten vermutlich die große Zahl der Menschen, die ohne Papiere und ohne die mindesten Rechte in der Bundesrepublik leben (ein Effekt, der vom niedersächsischen Innenministerium als Erfolg verbucht wird). Erschreckend ist jedoch vor allem, dass viele Menschen auf Jahre in der Ausreiseeinrichtung verbleiben. Die Strategie, den Flüchtlingen die Bleibeperspektive auszureden und den Ausreisedruck zu erhöhen, führt (dies bestätigt ein Bericht des Behördenleiters in Rheinland-Pfalz) offenkundig zur völligen Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit. Die Insassen dieser Lager werden praktisch von der Gesellschaft isoliert. Der Lageralltag verhindert selbst minimale Ansätze eines selbstbestimmten Lebens. Geldmittelentzug und das Fehlen unabhängiger Beratung vereitelt jede Hoffnung auf Rechtsberatung oder -beistand. So sind wesentliche Menschenrechte für die Insassen der Ausreiseeinrichtungen weder gegeben noch einklagbar.

Das Konzept des bayerischen Innenministeriums orientiert sich in wesentlichen Punkten an den existierenden Modellen der anderen Bundesländer. Eine andere Praxis oder bessere Behandlung der Insassen ist deshalb nicht zu erwarten. Es sieht eine Sozialberatung vor, die dazu dienen soll, Spannungen unter den Insassen zu reduzieren, sowie konsequent eine Rückkehrberatung durchzuführen. Während durch Behördenbefragungen, Anwesenheitskontrollen, Androhung des Entzugs von Taschengeld, Durchsuchungen und anderes mehr Druck auf die Insassen ausgeübt werden soll, der ihre Ausreisewilligkeit oder die Möglichkeit der Abschiebung erhöht, soll die Sozialberatung die voraussehbaren Konflikte abfedern und den erzeugten Druck in Richtung Herkunftsland kanalisieren. Sozialarbeit in Ausreiseeinrichtungen ist demnach an staatliche Vorgabe gekoppelt. Das Interesse der Insassen wird demgegenüber nachrangig behandelt. Sozialarbeit, die innerhalb des Ausreisezentrums tätig ist, wird zum Bestandteil einer staatlichen Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Die „Peitsche“ ist die erzwungene und deshalb nicht freiwillige Ausreisebereitschaft. Das „Zuckerbrot“ stellt die Rückkehrberatung in Verfolgerstaaten dar, versüßt durch einen Gratistransport und ein Handgeld. Dies ist mit einer Sozialarbeit im Interesse der Betroffenen nicht vereinbar.

Schon durch die bisherige Praxis behördlichen Umgangs mit Flüchtlingen, die unter der Maxime der Abschreckung steht, ist Sozialarbeit einem starken Zwiespalt ausgesetzt. Sozialarbeit ist integrationsorientiert und soll ein Individuum zur Führung eines selbstbestimmten Lebens anleiten und unterstützen. Dies stellt an die Sozialberaterinnen und Sozialberater in Flüchtlingsunterkünften große Ansprüche, denn die behördliche Praxis ist gerade auf die Verhinderung einer solchen gesellschaftlichen Integration von Flüchtlingen gerichtet. „Gut beraten – abgeschoben“ fasst das Dilemma der Flüchtlingssozialarbeit zusammen. In Ausreiseeinrichtungen wird dieser Widerspruch auf die Spitze getrieben. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter hätten bei einer Tätigkeit im Ausreisezentrum auszuhalten, dass sie die größten sozialen Spannungen und Nöte abfangen müssten und zugleich die Aufgabe hätten, Flüchtlingen die erzwungene Rückkehr in das Land, aus dem sie geflohen sind, schmackhaft zu machen. Sozialarbeit im Ausreisezentrum könnte nur noch heucheln, ihre Tätigkeit im Interesse der Insassen auszuüben.

In der Presseerklärung zum Fürther Ausreisezentrum richtet Innenminister Beckstein den Vorwurf an Migrationsberatungen und Flüchtlingsunterstützer, es sei inhuman, Flüchtlinge bei der Schaffung einer Bleibeperspektive zu unterstützen. Das ist eine Monstrosität. Es ist unabdingbar notwendig, dass Flüchtlinge eine Lobby haben, die sie berät und auch ihr Verlangen nach einer Perspektive für ein menschenwürdiges Leben und einen sicheren Aufenthalt unterstützt. Dies haben Kirchen und Wohlfahrtsverbände bislang in vorbildlicher Weise mit getragen. Sollte sich der seit den achtziger Jahren festzustellende Trend einer zunehmenden Entsolidarisierung und Flüchtlingsabwehr seitens der Politik und Gesellschaft auch auf Kirche und Wohlfahrtsverbände ausdehnen, stehen Flüchtlinge bald gänzlich schutzlos da. Damit stellen wir nicht den Sinn von Rückkehrberatung  und Unterstützung einer Perspektive auch im Herkunftsland in Frage. Es würde jedoch die Rückkehrberatung in Verruf bringen, stünde sie nicht mehr mit der Freiwilligkeit der Betroffenen in Einklang.

Wir appellieren an die Katholische Kirche und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, sich deutlich gegen Ausreisezentren in Bayern auszusprechen und den Freistaat aufzufordern, derartige Versuche einer weiteren Unterhöhlung von Flüchtlingsrechten in Bayern dauerhaft einzustellen. Das bayerische Konzept des Ausreisezentrums deutet darauf hin, dass es zu einem menschlich nicht zu vertretenden Umgang mit Flüchtlingen führen wird. Ohne Not werden neue Lager geschaffen für Flüchtlinge.

Wir appellieren an die Wohlfahrtsverbände, sich nicht am Modell Ausreiseeinrichtung zu beteiligen und den Anspruch der Sozialarbeit, die Interessen der Betroffenen wahrzunehmen, nicht unter die Interessen des Staates zu stellen. Beratung und soziale Unterstützung von Flüchtlingen ist bitter nötig, auch Rückkehrberatung kann sinnvoll sein, doch sollte sie außerhalb von Ausreiseeinrichtungen stattfinden.

Dieser Brief wird von res publica, Refugio München und dem Münchner Flüchtlingsrat unterstützt. Eingehende Informationen zu Ausreisezentren, dem bayerischen Konzept einer Ausreiseeinrichtung und den Folgen finden Sie auf www.ausreisezentren.de

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